Die „Krise der Germanistik“ ist ein Topos, der seit den Siebzigerjahren in schöner Regelmäßigkeit beschworen wird. Die Krise scheint zum Fach zu gehören wie die Blasphemie zur Religion. Mal wird beklagt, dass die Germanistik nicht am Puls der Zeit sei und sich auf ihre traditionellen, aber für die Gegenwart irrelevanten Wissensbestände zurückziehe, mal heißt es, dass sie ihre angestammten Kompetenzgebiete verlassen und sich kultur- und medienwissenschaftlich – also horribile dictu: „modisch“ – erweitert habe. Kritisch gesehen wird auch die Theorielastigkeit insbesondere der Literaturwissenschaft, die so gar nichts mit den Erfahrungen und Bedürfnissen des lesefreudigen Publikums zu tun habe. Auch gibt es den Vorwurf, dass die Germanistik keine charismatischen Autoren mehr hervorbringe, die mit denkwürdigen Büchern die Aufmerksamkeit der breiteren Öffentlichkeit finden.
„Die Germanistik“ ist dabei eine Sammelbezeichnung, die der Ausdifferenzierung des Fachs, das sich im neunzehnten Jahrhundert als Nationalphilologie konstituierte und vielleicht auch deshalb in besonderer Weise im Fokus öffentlicher Empfindlichkeiten und Erwartungen steht, kaum Rechnung trägt. Im Übrigen kann man es nie allen recht machen: Was den einen aufstößt, finden die anderen genau richtig. Kritisch ist sicher der weltweite Rückgang der Germanistik – ob es indessen am Fach liegt oder an der Welt, sei dahingestellt. Jetzt fand der XV. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG), die sich selbst als Weltverband der Germanistik versteht, statt – sechs Tage an der Karl-Franzens-Universität Graz unter der Leitung des Sprachwissenschaftlers Arne Ziegler.
Wie sich ein Thema leider weiter aktualisiert hat
Die IVG wurde 1951 gegründet und hat heute rund 1500 Mitglieder aus fünfzig Ländern. Ihr Ziel (die Förderung der internationalen germanistischen Zusammenarbeit und des wissenschaftlichen Nachwuchses) erscheint in einer aus den Fugen geratenen Welt allemal angeraten. Alle fünf Jahre findet ein IVG-Kongress an wechselnden Orten statt. 2015 war Shanghai Ausrichtungsort, 2021, pandemiebedingt um ein Jahr verschoben, Palermo. Und im Zeichen der Pandemie wurde auch das Thema für den Kongress in Graz formuliert: „Sprache und Literatur in Krisenzeiten – Herausforderungen, Aufgaben und Chancen der internationalen Germanistik“. Das Thema hat sich seitdem weltpolitisch vielfach selbst aktualisiert.
Den Eröffnungsvortrag hielt der Regensburger Linguist Albrecht Greule zum Thema „Die Sprache als Resonanzraum der aktuellen Krisen“. Kritisch blickte der Vortragende auf das allzu strapazierte Wort „Krise“ und verfolgte aus diskurslinguistischer Sicht dessen aktuellen lexikalischen Niederschlag. Im Blick auf das Themenspektrum der 66 Sektionen des Kongresses reflektierte er über die „Chancen der internationalen Germanistik“ im allgemeinen Krisenszenario. Diese sah er vordringlich in der auch an Studierende zu vermittelnden sprachkritischen Analyse der politischen und medialen Krisenkommunikation.
Dass man die drängenden Fragen der Zeit nicht aufgegriffen hätte, kann man dem rund 1100 Vorträge umfassenden Kongressprogramm nicht vorwerfen: Die Veränderung der Lesekultur im Zeichen der Digitalisierung, Künstliche Intelligenz zwischen Generativität und Kreativität, Migration, Flucht und Krieg als Themen in der Literatur, Folgen der Pandemie, Diskurspraktiken sozialer Fremdpositionierung, Diversität im Sprachunterricht, sprachliche Intensivierung in Krisenzeiten – die Erkenntnis, dass dabei kleine Wörter wie „so“ oder „wie“ eine dramatisierende Wirkung haben können, ist das Privileg philologischen Fragens. Historische Sektionen fragten etwa nach Krisen und Fluchtorten in der Literatur des Mittelalters oder nach dem Verhältnis von Globalität und Lokalität im achtzehnten Jahrhundert. Eine Sektion widmete sich der Rolle des Jiddischen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Auch Graz als Literaturstadt fand Berücksichtigung – kennt man doch die Rolle des Forums Stadtpark für die Avantgarde der Sechzigerjahre. Clemens J. Setz las im Begleitprogramm aus seinem entstehenden Graz-Roman.
Vier Russen auf der Tagung und zwei Ukrainer
Sektionen wurden in der Regel von Personen aus drei verschiedenen Ländern geleitet und waren entsprechend international besetzt. Der Gefahr monoperspektivischer Wahrnehmung komplexer Krisenkonstellationen wurde auf diese Weise strategisch vorgebeugt. Wenn etwa eine chinesisch-amerikanisch geleitete Sektion über „Deutsch-Asiatische Begegnungen in Krisenzeiten“ nachdachte, wurde der durch die globale Krisenentwicklung gesetzte politische Index germanistischer Kooperation offenkundig.
Traditionell sind die polnische, die italienische und die japanische Germanistik auf den IVG-Kongressen stark vertreten, doch waren auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus China und Indien, der Türkei und verschiedenen afrikanischen Ländern präsent. Aus finanziellen Gründen ist die Teilnahme von Germanistinnen und Germanisten aus dem sogenannten globalen Süden häufig schwierig, wiewohl es einige wenige Stipendien gibt. Nur vier beziehungsweise zwei Personen kamen aus Russland und der Ukraine; thematisch war die Ukraine allerdings in mehreren Sektionen gegenwärtig. „Shibboleth Czernowitz“ lautete der Titel einer Sektion, in der es um die Bukowina als Modell einer arealbezogenen mehrsprachigen, mit Deleuze/Guattari gesprochen einer „kleinen Literatur“ ging. Dass Czernowitz heute bombardiert wird, gehört zur traurigen Aktualität des Krisenbezugs.
Im Rahmen des Kongresses wurde der vom Auswärtigen Amt über den DAAD gestiftete Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Preis verliehen, der in diesem Jahr an den an der University of Dschang in Kamerun lehrenden Albert Guaffo ging, der zum Wissens- und Kulturtransfer im kolonialen Kontext, speziell am Beispiel Kamerun/Deutschland, geforscht, aber auch zur Provenienzforschung kultureller Artefakte seine kritische Stimme erhoben hat. Der Grimm-Förderpreis ging an Elaine Cristina Roschel Nunes von der Universidade Federal de Santa Catarina (Brasilien), die sich besonders in der Deutschlehrkräfteausbildung engagiert.
Wenn Krisen mit Kritik, Selbstreflexion und der Erkenntnis einhergehen, dass vielschichtige epochale Transformationen ein Aushandeln von Perspektiven, aber auch des Verhältnisses von Tradition und Innovation erfordern, ist das „Krisenfach“ Germanistik so schlecht nicht aufgestellt. Die politischen, sozialen und ökologischen Krisen der Gegenwart wird das Fach auch nicht bewältigen können, doch erschöpft sich seine Zuständigkeit nicht in der sprachkritischen Analyse, vielmehr befördert es im Umgang mit komplexen ästhetischen Sprachformen das, was Robert Musil den „Möglichkeitssinn“ genannt hat und in Zeiten des Umbruchs definitiv vonnöten ist. Zum neuen IVG-Präsidenten wurde der brasilianischen Germanist Paulo Soethe von der Universität Curitiba gewählt. Der nächste Kongress findet 2030 in Rio de Janeiro statt.
Martina Wagner-Egelhaaf lehrt Germanistik in Münster.