Zum Tod von Robert Wilson: Ich lade die Leute ein zum Tagträumen

vor 21 Stunden 1

Fast fünfzig Jahre ist es her, dass Robert Wilson „Death, Destruction & Detroit“ in der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer inszenierte. Doch die Bilder sind noch gegenwärtig – fremd, disparat und oft weit hergeholt, als kämen sie von einem fernen Planeten oder aus dem Erdmittelalter: Wie da ein Schauspieler, der komisch-virtuose Otto Sander, einen Monolog spricht und dazu als sein eigener Dirigent den Taktstock führt; wie ein riesiger grüner Dinosaurier, auf den Hinterbeinen stehend, gegen eine stachlige, auf allen vieren laufende rote Echse antritt, die schleichend das Weite sucht; wie schwarz gekleidete Männer und Frauen sich im zwischen Licht und Schatten changierenden Bühnenbild zur Klaviermusik von Keith Jarrett in Trance tanzen; wie ein Paar, Brian and Susan, das einem alten amerikanischen Film entlaufen scheint, Boy-meets-Girl-Sätze plappert, bis sie bedeutungslos werden... Fast am Schluss schwebte unendlich langsam ein Fallschirmspringer aus dem Schnürboden, Zeitungen flatterten, an Fäden gezogen, gen Himmel. Dann flutete Nebel den Zuschauerraum.

Ausschnitte, Rätselbilder, Erinnerungsfetzen. Doch eine „Liebesgeschichte in 16 Szenen“, so der Untertitel, lässt sich nicht nacherzählen. Schon nach der Premiere, im Februar 1979, wollte das nicht gelingen. Keine Fabel verband die fünfeinhalbstündige Aufführung: Wilson stellte ein Gesamtkunstwerk auf die Bühne, dessen scharf umrissene Bilder nur für sich (und für nichts anderes) stehen, nonverbales Theater mit irritierenden Schatten, Verschiebungen, Ungleichzeitigkeiten und Übermalungen, das, aus der Abhängigkeit vom Text befreit, sich Psychologie und Mimesis verweigert und kein Angebot, keine Aufforderung macht, es mit der Wirklichkeit zu vergleichen.

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Robert (Bob) Wilson, geboren am 4. Oktober 1941 in Waco in Texas, wollte eigentlich Maler werden. Die Kunst wurde ihm nicht in die Wiege gelegt. Sein Vater „war“, so sagte er 2023 in einem Interview, „mehr oder weniger ein Rassist“, der es als eine Schande ansah, dass sein Sohn schwul war, im Theater arbeitete und einen tauben schwarzen Jungen adoptierte. Mit diesem war ganz ohne Text sein erstes Stück („Deafman Glance“) entstanden, das nächste realisierte er mit dem autistischen Schauspieler Christopher Knowles.

Die multimediale Szenografie von Robert Wilson, der zuvor mit der Oper „Einstein on the Beach“ von Philip Glass in Deutschland gastiert hatte, wurde in Berlin als Offenbarung aufgenommen: Die tonangebende und kritischste literarische Schauspielbühne in Deutschland zeigte, dass es noch ein ganz anderes Theater gibt, das in seiner Traumlogik und seinen geometrischen Konstruktionen, seinen Variationen und Wiederholungen an surrealistische Gemälde erinnert. Und dass es ein anderes Zuschauen gibt. Das Theater ließ sich besuchen wie ein Museum: „Dauer und Charakter der Aufführung“, so hieß es, „lassen neben der offiziellen Pause jederzeit eine eigene Pausenwahl zu.“ Wilsons Diskurs setzte die Gesetze der Zeit und der Schwerkraft außer Kraft, seine Absage an den Realismus war fundamental: „Ich lade die Leute ein zum Tagträumen.“

Sprachstörungen als Kind

Das andere Verständnis von Theater hat mit der anderen Aneignung von Wirklichkeit zu tun: Als Kind litt Wilson unter Sprachstörungen, von denen er erst im Alter von siebzehn Jahren geheilt wurde. Während des Kunst- und Architekturstudiums am Pratt Institute in New York begeisterte er sich für die Ballette von George Balanchine und Merce Cunningham. Mit behinderten Kindern machte er therapeutisches Theater, von dem er sich abwandte, um sein zweckfreies, autonomes Theater zu entwerfen. Stefan Brecht, Sohn des Gründers des epischen Theaters, hat dazu 1978 eine dicke Studie vorgelegt: „Sein Theater der Visionen war ein erfolgreicher Versuch, ein Theater zu schaffen, das von der rechten Großhirnhälfte beherrscht wird“, schrieb er über Wilson. „Er will nicht nachahmen und nichts bedeuten; nach dem Sinn fragt er nicht.“

In der Theaterbiographie des Robert Wilson bedeutet „Death, Destruction & Detroit“ einen Quantensprung, denn es war die erste Produktion, die er mit dem Ensemble eines Theaters entwickelte. Seitdem ist er (nicht nur) in Deutschland viel gefragt und beschäftigt: 1981 folgte „The Man in the Raincoat“ in Köln, im Jahr darauf „Die Goldenen Fenster“ an den Münchner Kammerspielen, 1987 die Fortsetzung „Death, Destruction & Detroit II“ an der Schaubühne. Bald ist er weltweit unterwegs, um für die Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles sein größtes, ehrgeizigstes, am Ende wegen einer Finanzierungslücke Stückwerk gebliebenes Projekt vorzubereiten: „CIVIL warS“, dessen fünfzehn Szenen und vierzehn Zwischenspiele in Rotterdam, Köln, Rom, Tokio, Paris und Minneapolis produziert wurden und in Los Angeles aneinandergefügt werden sollten.

Heiner Müller als Kompagnon

Wilson tat sich dafür erstmals mit Heiner Müller zusammen, der Schöpfer der künstlichen, oberflächlichen Bilder und die höchste Denkerstirn unter den deutschen Dramatikern wurden Kompagnons. In der Folge inszeniert er 1986 „Hamletmaschine“, 1987 „Quartett“ und an der Oper Stuttgart „Alkestis“ nach Euripides und Müller. Er lässt sich auf klassische Dramen wie „Lear“ (mit Marianne Hoppe in der Titelrolle) oder „Lulu“ (mit Angela Winkler) ein, adaptiert Duras’ „Die Krankheit Tod“ (mit Libgart Schwarz) und Carrolls „Alice“ für die Bühne, verwandelt sich Märchen („Das kalte Herz“) und Mythen („Parzival“) an und donnert den „Freischütz“ mit Texten von William Burroughs und dem Sound von Tom Waits zum Musical „The Black Rider“ auf, das an zahlreichen Theatern nachgespielt wird.

Marina Abramović wie auch Herbert Grönemeyer gewinnt er für Projekte. Nur ausnahmsweise werden seine Bearbeitungen, darunter 2023 Alfred Jarrys „Ubu“ beim Kunstfest Weimar, als andere szenische Lesarten verstanden, detailgenau durchgeplant und durchgestylt, zwingen sie jedem Stück und jedem Stoff Wilsons Ästhetik auf. Mit steigender Schlagzahl schwindet der Innovationsüberschuss der Kreationen, werden diese glatter, gefälliger, beliebiger. Das Selbstzitat wird zum Signum, Stil zu Manier.

In den vergangenen Jahren hat sich Robert Wilson verstärkt der Oper zugewandt, auch als Bildender Künstler und Hörspielautor ist er hervorgetreten. 2006 eröffnete er auf Long Island, zwei Autostunden von Manhattan entfernt, das Watermill Center. In der umgebauten Fabrik hat er sein Archiv und seine Sammlung untergebracht, ein Kunstlabor und eine Begegnungsstätte, die das Erbe dieses vielleicht einzigen global players des Theaters, der am 31. Juli im Alter von 83 gestorben ist, bewahrt, erforscht – und für neue Auseinandersetzungen bereithält.

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