
Langläuferin Carl im März in Finnland: Wie lang wird sie gesperrt?
Foto: Mathias Bergeld / Bildbyran / IMAGODieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Victoria Carl steht vor den Scherben ihrer Karriere. Sie ist Olympiasiegerin, die abgelaufene Saison beendete die beste deutsche Langläuferin auf Rang zwei des Gesamtweltcups. Nun droht ihr eine lange Sperre, am Mittwoch wurde bekannt, dass die 29-Jährige positiv auf Clenbuterol getestet wurde – und das womöglich wegen eines schwer begreiflichen Versehens. »Es geht mir sehr, sehr schlecht. Es ist sehr, sehr hart und zieht extrem viel Energie«, teilte sie mit.
Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Wie soll das Clenbuterol in ihren Körper gekommen sein?
Nach der Weltcupsaison nahm Carl, Sportsoldatin von Beruf, noch an den Militärweltspielen in der Schweiz teil. »Ich litt unter sehr starkem Wettkampfhusten, konnte kaum schlafen. Ich habe mir bei unserem Truppenarzt Hilfe gesucht und der hat mir ein Medikament verabreicht«, so Carl. Die Einnahme erfolgte nach ihrem letzten Wettkampf. Unter Wettkampfhusten versteht man das Husten infolge starker körperlicher Anstrengung. Es kann infolge einer Erkältungskrankheit auftreten oder als Symptom von Belastungsasthma. »Bei Wintersportlern ist dieses Wettkampfhusten weit verbreitet«, sagt Fritz Sörgel, einer der renommiertesten deutschen Dopingforscher, dem SPIEGEL am Telefon.
Carl wurde bei den Militärspielen nicht von ihrem normalen Verbandsarzt betreut, sie bekam das Medikament laut einer Mitteilung des Deutschen Skiverbands (DSV) von einem »Truppenarzt der Bundeswehr«. Und hier soll die Verwechslung passiert sein: Statt Mucosolvan, eines frei erwerbbaren Medikaments ohne Clenbuterol, soll der Arzt Spasmo Mucosolvan bestellt und verabreicht haben. Spasmo Mucosolvan enthält das verbotene Clenbuterol.
»Für die Sportlerin ist das wirklich unglücklich gelaufen«, sagt Sörgel: »Das normale Mucosolvan mit seinem Hauptwirkstoff Ambroxol ist nicht wirklich ein starkes Arzneimittel.« Anders Spasmo Mucosolvan, das Athletinnen nur im Ausnahmefall gegeben werden dürfe.
Wie kann das passieren?
Laut Sörgel liegt hier menschliches Versagen vor. »Mediziner, die mit Sportlern zu tun haben, müssen Lehrgänge machen, in denen es darum geht: Was ist ein Dopingmittel? Es geht hier ja nicht um eine unbekannte Athletin, sondern eine Hochleistungssportlerin.« Leider aber, so Sörgel, passiere das gar nicht so selten. Sörgel glaubt, dass die Einnahme des Medikaments tatsächlich aus Unwissenheit passiert sei, weil die Einnahme des Medikaments bereits im März zugegeben worden sei.
Wieso ist Clenbuterol verboten?
In einer Tablette Spasmo Mucosolvan befinden sich 20 Mikrogramm Clenbuterol. Als Wirkstoff der Gruppe der Beta-2-Sympathomimetika entspanne es die glatten Muskelzellen der Bronchien, sagt Sörgel, höher dosiert komme es aber über die großen Muskeln im Körper zur Leistungssteigerung.
»Bei zwei, drei oder vier Tabletten sind wir im Bereich eines Fatburners.« Das Mittel regt den Stoffwechsel an, der Körper verbrennt Kalorien und baut Fett ab. Der Abbau von Proteinen in der Muskulatur wird aber verlangsamt. Deswegen ist der Wirkstoff auch in der Bodybuilderszene beliebt.
»In noch kräftigeren Dosierungen, also bei rund 200 Mikrogramm, ist es ein klares Anabolikum«, sagt Sörgel, Leiter des Instituts für biomedizinische und pharmazeutische Forschung in Heroldsberg. Das Mittel sei dem Experten zufolge völlig zu Recht verboten.
Warum dürfen manche Athletinnen dennoch Anti-Asthma-Medikamente schlucken?
Vereinzelt dürfen Sportler ähnliche Wirkstoffe nehmen, sie benötigen aber eine Therapeutic Use Exemption, kurz TUE. Also eine Ausnahmegenehmigung. Bekannt ist der Fall der norwegischen Wintersportler, die bei den Olympischen Spielen 2018 mit 6000 Dosen Asthmamittel nach Südkorea gereist sein sollen.
Unter anderem muss für eine Ausnahmegenehmigung die medizinische Notwendigkeit nachgewiesen werden, außerdem darf die Einnahme nicht zur Leistungssteigerung führen.
Zudem gibt es eine Ausnahme für lebensbedrohliche Situationen. »Hätte Victoria Carl danach gesagt, sie musste so stark husten, dass sie keine Luft mehr bekam, dann hätte man eine nachträgliche Genehmigung beantragen können«, sagt Sörgel.
Welche Fälle von Clenbuterol-Doping gibt es noch?
Das Mittel wird und wurde oft in der Kälbermast eingesetzt. Der deutsche Tischtennisstar Dimitrij Ovtcharov wurde etwa einst auf das Mittel getestet, dann aber freigesprochen, weil er nachweisen konnte, es durch kontaminierte Nahrung in China aufgenommen zu haben. Ebenfalls 2010 wurde Radstar Alberto Contador positiv getestet, er sagte, er habe ein verunreinigtes Steak gegessen. Dennoch wurde er für zwei Jahre gesperrt.
In Deutschland ist der wohl aufsehenerregendste Fall der von der Sprinterin Katrin Krabbe aus dem Jahr 1992. Auch sie nahm ein Asthmamittel, in dem Clenbuterol enthalten war.
Krabbe wurde gesperrt. Die Sperre durch den Weltleichtathletikverband wurde von Gerichten später aber als unverhältnismäßig und rechtlich unzulässig gewertet. Viel später bekam sie Schadensersatz zugesprochen, ihre Sportkarriere endete aber mit der Dopingprobe.
In den vergangenen Jahren fiel Clenbuterol nicht mehr groß auf.
Wie geht es weiter?
Der Arzt übernimmt die Verantwortung für die Ausgabe des verbotenen Medikaments. »Aber das hilft Victoria Carl wahrscheinlich nicht viel«, sagt Sörgel. Auch Carl weiß, dass sie das Mittel nicht hätte nehmen dürfen: »Es steht auf der Liste. Ich darf es weder im Training noch im Wettkampf zu mir nehmen. Ich trage die Konsequenzen komplett.«
Diese könnten denen im Fall der Spitzenlangläuferin Therese Johaug ähneln. Bei der Norwegerin war im Jahr 2016 ein Test auf die Substanz Clostebol positiv ausgefallen. Der Wirkstoff war demnach in einer Creme enthalten, die Johaug von einem Teamarzt wegen eines Sonnenbrands auf der Lippe gegeben worden war. Auch wenn der Arzt die komplette Verantwortung übernahm, wurde Johaug schließlich 18 Monate gesperrt.
Der DSV verbreitet noch Optimismus. »Sie wird derzeit mit möglichen Konsequenzen konfrontiert, für die sie medizinisch nicht verantwortlich ist. Eine Sperre, insbesondere mit Blick auf die Olympischen Spiele, wäre aus unserer Sicht weder gerecht noch verhältnismäßig«, sagte Vorstandsmitglied Stefan Schwarzbach.
Sörgel glaubt, dass Carl auf jeden Fall die Olympischen Spiele 2026 in Mailand und Cortina verpassen könnte. Selbst wenn die Nationale Anti-Doping-Agentur (Nada) Milde walten ließe und nur eine kurze Strafe ausspreche, werde sich die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) einschalten. »Das kann sich dann alles lange hinziehen und bis vor den Cas gehen«, glaubt Sörgel. So ein Gang vor den Internationalen Sportgerichtshof kostet Zeit. Zeit, die nicht bleibt bis zu den nächsten Winterspielen.

Athletin Carl bei den Olympischen Spielen in Peking, 2022
Foto: VEGARD GRoTT / Bildbyran / IMAGOAuch Anti-Doping-Experte Ake Andren-Sandberg erwartet eine lange Sperre. »Wer Doping im Körper hat, wird gesperrt«, sagte der Schwede dem Sender SVT Sport. Er erwarte eine Zwangspause von »wahrscheinlich vier, vielleicht zwei Jahren« für die DSV-Athletin.
Carl, die bei den Olympischen Spielen 2022 in Peking Gold im Teamsprint mit Katharina Hennig-Dotzler holte, wird Ende Juli 30 Jahre alt. Wenn man von einer zweijährigen Sperre ausgeht, könnte sie frühestens zur Saison 2027/2028 wieder in den Weltcup einsteigen, somit würde sie neben den Spielen in Cortina auch die Nordische Ski-WM 2027 in Falun verpassen. Schwer vorstellbar, dass Carl als 32-Jährige nach einer so langen Pause in die Weltspitze zurückkehrt. In der abgelaufenen Saison belegte sie den zweiten Platz im Gesamtweltcup. So weit vorn landete zuvor noch nie eine deutsche Frau.
mit Material des Sport-Informations-Dienstes sid