Shortlist zum Buchpreis: Gewalterfahrungen als Konstante

vor 20 Stunden 1

Die Jury des Deutschen Buchpreises sorgt für Spannung, denn auf der gerade veröffentlichten Shortlist finden sich neben zwei allgemein hocheingeschätzten Kandidaten, Thomas Melles „Haus zur Sonne“ und Dorothee Elmigers „Die Holländerinnen“, vier weitere Romane, die inhaltlich so unterschiedlich und doch auch literarisch jeweils so gekonnt sind, dass man keinem von ihnen Außenseiterchancen absprechen kann. Es sind Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“, Jehona Kicajjs „ë“, Fiona Sironics „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft“ sowie Christine Wunnickes „Wachs“.

Wobei man ein gemeinsames Motiv aller sechs Bücher identi –izieren kann: Gewalterfahrung – ob bei dem vor seinem eigentlich fest verabredeten Suizid noch einmal luxuriös umsorgten Protagonisten von Thomas Melle, ob bei der mit den Untiefen der Zivilisation konfrontierten Theatertruppe bei Elmiger, bei Erdmanns Elfjährigem, der den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium miterlebt, bei Kicajs mit ihrer Familie dem Kosovo-Krieg entronnener Erzählerin, bei Sironics in einer nahen Zukunft im ökologischen Ausnahmezustand lebenden Mädchen oder bei Wunnickes beiden Frauen aus den letzten Jahren des französischen Ancien Régime, deren eine noch zur Zeugin der Exzesse der Revolutionszeit wird. Gewinnen also wird auf jeden Fall ein (Be-)Lehrstück, aber lesenswert sind diese Bücher alle, weil jeweils nicht nur die Moral ihrer Geschichte im Fokus steht, sondern auch die literarische Form.

Wo sind diesmal die Platzhirsche unter den Verlagen geblieben?

Das Übergewicht von Hanser-Autoren auf der vor vier Wochen veröffentlichten Longlist ist nunmehr beseitigt: Außer Elmigers Roman ist kein Buch mehr aus dieser Verlagsgruppe dabei. Die anderen fünf stammen von Kiepenheuer & Witsch, Ullstein, Wallstein, Ecco und Berenberg, also kein starkes Jahr für Großverlage.

Auffällig ist auch, dass der auszeichnungsverwöhnte Suhrkamp Verlag, der bereits nur einen Longlist-Kandidaten aufzuweisen hatte, nun ganz absent ist und dadurch abermals auf einen verkaufsstarken deutschsprachigen Titel warten muss. Fischer und Rowohlt trifft dasselbe Schicksal. Der grenzüberschreitende Anspruch des Deutsch(sprachig)en Buchpreises ist erfüllt: Mit Elmiger ist eine Schweizerin auf der Shortlist, und die gebürtige Neußerin Sironic lebt in Österreich. Verlage aus den beiden Nachbarstaaten hatten dagegen kein Glück.

Mit Christine Wunnicke ist eine schon dreifach erfolglos für den Buchpreis nominierte Kandidatin dabei; dieses enttäuschende Schicksal teilt sie mit Thomas Melle. Jehona Kicaj und Fiona Sironic sind Romandebütantinnen, und man würde sich fast schon ihrer Buchtitel wegen wünschen, dass eine von ihnen gewönne, denn den kürzeren der beiden Titel würde kaum jemand richtig aussprechen, den längeren sich kaum jemand richtig merken können.

Am 13. Oktober, dem Montag der Buchmesse-Woche wird abends kurz vor 19 Uhr im Frankfurter Römer bekanntgegeben, wer von diesen sechs Romanen das Rennen macht. Für den Siegertitel gibt es ein Preisgeld von 25.000 Euro, die anderen fünf Finalisten streichen jeweils ein Zehntel davon ein. Aber was wirklich an diesem Preis hängt, ist – wie seit den Beschwerden von Clemens Meyer im Vorjahr über seine damalige Niederlage alle wissen – die resultierende Aufmerksamkeit, die noch das sperrigste Buch zum Bestseller werden lässt.

Wobei es diesmal gar nichts Sperriges gibt; man könnte höchstens von Herausforderungen sprechen, was etwa Elmigers oder Wunnickes subtile, auf ganz unterschiedliche Weise artifizielle (aber hochliterarische) Erzählhaltungen angeht, die nicht bei allen sieben Juroren gleich gut ankommen dürften. Das wiederum spricht für Thomas Melles inhaltlich verstörenden, aber sprachlich zugänglicheren Roman. Er ist der Favorit.

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