Apollo 8 sollte nicht auf dem Mond landen, das geschah erstmals ein halbes Jahr später am 21. Juli 1969. Doch Frank Borman, William Anders und James Lovell drangen weiter ins All vor als je ein Mensch zuvor. Zehnmal umkreisten sie den Mond – und schossen an Heiligabend 1968 ein Foto, das die Welt verändern sollte: im Vordergrund der kahle graue Mond, im Hintergrund die aufgehende blau-weiße Erde. Auf Youtube ist in Tondokumenten zu hören, wie die Astronauten, die gerade noch über einen Mondkrater rätselten, bei einer Drehung des Raumschiffs das Unerwartete erlebten: Durch ein Fenster war plötzlich die aufgehende Erde zu sehen. „Oh mein Gott! Seht euch das an!“, rief Anders verblüfft.
Dieser erste Weltraumblick auf die Erde, „Earthrise“ genannt, gilt heute als eines der einflussreichsten Bilder aller Zeiten, es trug maßgeblich zur Entstehung der Umweltbewegung bei. Samantha Harvey folgt William Anders nun in die Weiten des Alls. In ihrem Roman „Umlaufbahnen“ erleben wir sechs Astronauten aus verschiedenen Ländern, zwei Frauen und vier Männer, einen Tag lang auf ihrer Raumstation 400 Kilometer über der Erde, die sie mit 28.000 Stundenkilometern umkreisen, sechzehn Mal am Tag. Alle neunzig Minuten bricht der Morgen aufs Neue an und lässt die Sonne auf- und untergehen wie ein mechanisches Spielzeug. Jedes Kapitel ist einem Orbit gewidmet. Obwohl die Autorin ihrem Bordpersonal ein Minimum an Eigenleben zugesteht – die Japanerin Chie erfährt vom Tod ihrer Mutter, der Russe Anton entdeckt einen Knoten am Hals, ein anderer ist unglücklich in seiner Ehe –, verschmelzen die sechs Stimmen im Laufe der Lektüre wie ein griechischer Chor zu einer einzigen Polyphonie.
Poetik, Metaphysik und letzte Dinge
Die kosmische Phantasie der britischen Autorin, die für dieses Werk soeben mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde, ist von bezaubernder Poetik und Metaphysik. Wenn außerhalb der Erde alles in einer mondhellen Masse verschwindet und Wolkenbüschel über dem Pazifik den nächtlichen Ozean kobaltblau erleuchten, kann man sich dieser außergewöhnlichen Stimmung und dem Sog der strahlend schwebenden Beschreibung nicht entziehen. Manchmal klingt es gar wie ein langes Gedicht.
Das Leben an Bord ist geprägt von Intimität und von Isolation. Harvey setzt das Thema gleich im ersten Satz: „So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden.“ Die transzendentale Heimatlosigkeit fällt zusammen mit dem Wissen um die Abhängigkeit voneinander. Die Raumfahrer sind Wissenschaftler, Profis, auch in metaphysischer Hinsicht. Sie wurden jahrelang daraufhin geschult, in absoluter Klarheit zu denken. Ihre Verbundenheit geht so weit, dass sie ihren aufbereiteten Urin trinken.
Harvey verfolgt literarisch ein himmelschreiend ehrgeiziges Ziel. Sie will Worte finden für die Unermesslichkeit, die wir nicht begreifen können. Das gelingt ihr mit einer schwindelerregenden Prosa, die klaustrophobisch und unendlich zugleich ist. Harvey selbst nennt ihren Roman eine „Weltraum-Pastorale“. Damit grenzt sie sich bewusst von anderen Weltraumerzählungen ab, etwa von Filmen wie Kubricks „Odyssee im Weltraum“ oder Christopher Nolans „Interstellar“.
Die interstellare Show liegt ihr fern. Ihre Säulenheilige ist Virginia Woolf, die hier gleich mehrfach gespiegelt wird, wenn Harvey mit sechs Hauptfiguren in der Enge der Weltraum-Herberge Woolfs Roman „Die Wellen“ ebenso Referenz erweist wie „Mrs Dalloway“, Woolfs Roman, der ebenfalls an nur einem einzigen Tag spielt. In „Umlaufbahnen“ kommt der reizvolle Umstand hinzu, dass die Definition eines Tages, durch die Erdrotation definiert, außer Kraft gesetzt wird. Umso verzweifelter versucht die Crew an den vertrauten Rhythmen und Gewohnheiten festzuhalten, auch wenn sie beim Aufwachen ihre Armen und Beiden nicht spüren, die ihnen wie Fremdkörper erscheinen.
Unterwegs durch die Finsternis
Überhaupt versuchen sich die sechs während ihrer neun Monate im All so gut wie möglich einzurichten. Sie schlafen wie Fledermäuse in ihren Schlafsäcken und schlucken Zahnpasta, weil austretende Flüssigkeiten in der Schwerelosigkeit lebensgefährlich sind. Deshalb dürfen sie auch nicht weinen, weil sie ihre Tränen sonst wieder einfangen müssen. Auch Harvey driftet eher durch die Handlung, als dass sie auf Dramatik oder Spannung aus wäre. Auf diesem Raumschiff, das sich wie eine große Kaffeemühle durch die weglose Finsternis schlängelt, gibt es keine Rivalitäten, Affären oder Streitigkeiten. Die Erzählung ist vielmehr eine Reflexion über die Natur der Dinge und den Sinn des Lebens, die durch die überirdische Dimension an Tiefe gewinnt. So erinnert sich der Amerikaner Shaun nicht zufällig an Velázquez’ Gemälde „Las Meninas“, das ein mise en abyme ist, und sich als Bild im Bild immer weiter ins Unendliche schraubt.
Wie man in der Danksagung am Ende des Romans erfährt, hat Samantha Harvey sich von der NASA und der ESA beraten lassen. Das erklärt ihre genaue Kenntnis der vielen technischen Details und der alltäglichen Verrichtungen der Astronauten, die für diese Fahrt einen hohen Preis zahlen: Die Knochendichte nimmt in der Schwerelosigkeit ab, die Arterien versteifen, die Herzen schrumpfen.
Doch die Schwerelosigkeit hat noch eine andere Dimension. Nationale und territoriale Unterschiede spielen hier oben keine Rolle mehr. Die Raumfahrer teilen nicht nur ihre Essensrationen untereinander, auch dass die Toiletten nach Nationalitäten getrennt sind, interessiert sie nicht. Der Roman sieht die Menschheit nicht als diese oder jene Nation, sondern als alle zusammen. Zusammenhalt wird zur Resilienz gegenüber einer Politik des grenzenlosen Wachstums.
Dabei wissen die Astronauten, dass sie selbst Teil der ungeheuerlichen Ressourcenausbeutung sind. Allein ihre Rakete hat beim Start so viel Treibstoff verbraucht wie eine Million Autos. Beseelt vom Wunsch, die Erde zu schützen, wird „Umlaufbahnen“ so zu einem poetisch-politischen Roman des Anthropozäns – und zu einer Liebeserklärung an die Erde in ihrer ganzen verwundbaren Schönheit.