Putin spielt mit den Schuldgefühlen der Deutschen, sagt der Historiker Gerd Koenen. Damit treffe er auf eine alte deutsche Projektion von russischer Größe.
DIE ZEIT: Herr Koenen, kann es sein, dass Putins Russland auch deshalb so übermächtig, fast unbesiegbar scheint, weil der russische Präsident Putin sehr geschickt mit den Ängsten der Deutschen zu operieren weiß? Mit den Kriegsängsten, den Traumata des Zweiten Weltkriegs?
Gerd Koenen: Ja. Das ist auch in meine eigene familiäre Erinnerung eingeschrieben. Einer meiner Onkel ist vor Leningrad gefallen, der andere in Stalingrad in Gefangenschaft geraten, er war bis 1953 abwesend. Ich selbst bin Jahrgang 1944, aber eine dunkle Ahnung hat mich schon als Kind geprägt. Meine Mutter stand vor Kriegsende völlig im Bann der Drohung, die Russen könnten auch zu uns kommen. Das war völlig irreal, wir lebten weit im Westen, trotzdem dachte sie, wie viele deutsche Frauen, darüber nach, in diesem Fall sich und ihre Kinder umzubringen. Dahinter standen natürlich die Gräuelpropaganda des Regimes sowie Flüchtlingsgespräche und reale Erfahrungen. Es hat mich wie ein Blitz getroffen, das fast achtzig Jahre später in ihren Briefen zu lesen.