Wer den weitläufigen öffentlichen Park der vogtländischen Stadt Greiz erkundet, begegnet einer Rotunde, die in kruder Abfolge zuerst eine fürstliche Porzellansammlung beherbergt hatte, später katholische Kapelle war und schließlich zu einem Ort des Gedenkens für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs wurde. Der Bildhauer Karl Albiker schuf 1926 dafür eine Skulptur, in der die Sinnlosigkeit des Krieges zusammengefasst ist: Ein Soldat mit Stahlhelm ist kraftlos auf die weit geöffneten Knie gesunken und reckt in ausgreifender Gebärde die Hände nach oben, wobei der Kopf müde gesenkt ist — ein Besiegter. Pathos und Expressivität halten sich die Waage, man mag an Rodin denken.
Die Bildhauerin Elly-Viola NahmmacherChristian Freund, ThiesingDiese Bronzeplastik, im Ort seinerzeit umstritten, löste bei einem damals dreizehn Jahre alten Mädchen den Wunsch aus, Bildhauerin zu werden. Elly-Viola Müller war mit ihren Eltern und einem Bruder 1921 von Gera nach Greiz gezogen. Zielstrebigkeit war eine ihrer Stärken: Elly-Viola Nahmmacher (1913 bis 2000) wirkte mehr als fünfzig Jahre in Greiz. Sie war eine aufrechte, nicht angepasste Bürgerin in der DDR. Ihre überwiegend — aber nicht ausschließlich — sakralen Werke zieren Kirchen und Kapellen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Süddeutschland, Berlin, Hamburg. Der spirituelle Gehalt ihrer nonkonformen Kunst ist verblüffend. Sie ist eine Virtuosin der Holzbearbeitung; den Stil könnte man als expressiv, zugleich auf das Wesentliche reduziert bezeichnen. Experimente mit gemischten Materialien unter Benutzung von Metall und Glas sind ebenso zu entdecken wie formale Strenge in der Auseinandersetzung mit ihrem Hauptwerkstoff Holz.
Resonanzen bei Liturgie und Chorgesang
Ein Beispiel ihres selbstbewussten Zugriffs ist die 4,80 Meter hohe Figur des siegenden Christus am Kreuz in der evangelischen Kreuzkirche in Chemnitz (aus Lindenholz, 1954). Der bekleidete Körper und das Holzkreuz verschmelzen miteinander zu einer Synthese. Die Gestalt Christi wirkt souverän und verklärt. Wie der Kunsthistoriker Frank Matthias Kammel zutreffend beschreibt, liegt in der Skulptur „die lapidare Kraft der Gebärde, sie suggeriert nicht Hängen, sondern Schweben und damit das sieghafte Moment der Todesüberwindung“. Der Topos des siegreichen Erlösers ist aus der älteren Kunstgeschichte wohlbekannt. Die hohe Christusfigur vor dunkelrotem Hintergrund dominiert ideal den kubisch gestalteten Kirchenraum des bedeutsamen Architekten Otto Bartning. Sowohl im liturgischen Zusammenhang als auch bei der Aufführung geistlicher Musik wie etwa Chorgesang im Altarraum ergeben sich Resonanzen durch den stilisierten Christus von der Hand Elly-Viola Nahmmachers.
Aus Elly-Viola Nahmmachers Aquarellzeichnungen mit biblischen MotivenChristian Freund, ThiesingVor seiner Installierung in der Kirche war das Monumentalkruzifix im Rahmen des Kirchentags 1954 im Leipziger Grassimuseum ausgestellt worden, und zwar in Nachbarschaft zu dem ebenfalls großformatigen Gemälde „Große Auferstehung II“ von Otto Dix (1949). Wie Dix stammt Elly-Viola Nahmmacher aus Untermhaus, einem Ortsteil von Gera. Und wie Nahmmacher hat sich Dix in der Nachkriegszeit mit biblischen Themen beschäftigt, er vor allem in Lithographien. Doch Dix blieb nach dem Krieg in Westdeutschland, während die Holzbildhauerin mit ihrer Familie, dem Ehemann Wilhelm Nahmmacher und zwei Töchtern, zunächst im sächsischen Chemnitz — zwischen 1953 und 1990 Karl-Marx-Stadt — und später wieder im thüringischen Greiz lebte.
Zu großer Nähe zu Widerspenstigen
Sie verdankte es ihrer jugendlichen Energie, Wissbegier und Offenheit, von denen jüngere Weggefährten bis heute sprechen, dass sie trotz großer Widrigkeiten ein erfüllendes schöpferisches Leben führen konnte. Nach einer Buchhändlerlehre war Elly-Viola Müller 1934, mit einundzwanzig Jahren, nach Freiburg im Breisgau gezogen und arbeitete dort am archäologischen Großprojekt der „Reichs-Limes-Kommission“ mit. Zugleich nahm sie mit sicherem Gespür Bildhauerstudien bei Eva Eisenlohr auf, einer überaus originellen Künstlerin mit spirituellem Interesse, deren Werke von 1937 an teilweise als „entartet“ verfemt wurden. 1936 schuf Elly-Viola Müller ihre erste Madonna aus Stein. Nach der Heirat mit Wilhelm Nahmmacher 1938 lernte sie drei Jahre lang in Chemnitz bei dem Bildhauer Emil Mund. Von der in der Weimarer Republik hochgeschätzten Berliner Bildhauerin und Grafikerin Renée Sintesis — deren Berufung in die Akademie der Künste durch die Nazis beendet wurde — empfing sie Impulse der dynamischen Form. Auch ihr Interesse für Tierplastik deckte sich mit jenem von Sintesis. Die Inspiration durch geistig unabhängige Künstlerinnen und Künstler zog sich durch ihr gesamtes Schaffen, auch und gerade in der DDR-Zeit.
Nach der Geburt zweier Töchter und der Rückkehr ihres Mannes aus der Kriegsgefangenschaft begann eine beeindruckende Reihe von Ausstellungen, kleinerer zumeist, doch die schiere Anzahl verriet das unermüdliche Arbeiten. 1952 wurde Elly-Viola Nahmmacher in den Verband Bildender Künstler Thüringens aufgenommen, womit regelmäßige Aufträge verbunden waren. 1975 jedoch wurde sie wegen zu großer Nähe zu widerspenstigen Lyrikern wie Reiner Kunze aus dem Verband ausgeschlossen.
Ein Glasmaler lasierte ihr das Holz
Ein 1958 geschnitztes Schöpfungssymbol von Elly-Viola Nahmmacher, das im Schlossmuseum von Greiz aufbewahrt wirdSchlossmuseum GreizNahmmachers Werkstoff – Holz aus großen Stämmen – und eine intensive Beziehung zur Natur führten dazu, dass sie in Frühling, Sommer und Herbst im Freien schaffte: Ihr „Atelier“ bestand aus einem verwilderten Garten gegenüber ihrer Wohnung am Ende der Ernst-Thälmann-Straße (jetzt wieder Carolinenstraße) mitsamt einer Grotte zum Unterstellen. Wie die Schnitzkünstler früherer Jahrhunderte bearbeitete sie häufig das helle weiche Lindenholz, doch auch Ulme, Esche oder Zypressenholz waren vertreten. Zypresse „mit äußerem weißem Splintholz und rötlich bis lila geflammtem Kernholz hat sie besonders gern“, schreibt Hildegard Mensing in ihrer 1963 erschienenen Monographie „Elly-Viola Nahmmacher – Eine Bildhauerin in unserer Zeit“. Aus Zypressenholz ist etwa das „Schöpfungssymbol“ (1958), das als Teil des Nachlasses im Museum der Stadt Greiz aufbewahrt wird. Oval und Ring, Sinnbilder für Ewigkeit und vollkommenes Sein, umschließen eine innere Form, die sowohl an ein Kreuz als auch — durch die Maserung — an Vogelschwingen denken lässt.
Um das farbige Lasieren des Holzes bei Altargestaltungen, Kanzeln oder Christusfiguren bat sie häufig den gut zehn Jahre jüngeren Glasmaler Christof Grüger. Ihre ineinandergreifende Zusammenarbeit wird in dem neuen Buch „Christof Grüger – Meister der Glas- und Textilkunst“ anschaulich beschrieben.
Werkkunst in zerstörten Kirchen
Als der Chemnitzer Christus 1954 beim Leipziger Kirchentag gezeigt wird, sagte Lahmmachers dreizehn Jahre alte Tochter: „Mutti, du wirst berühmt.“ Doch die Künstlerin sah es anders: „Man kann immer nur dankbar sein.“ So berichtet es die Biographin Mensing. Bemerkenswert, dass Lahmmacher 1955 mit drei Werken auf der ersten Documenta in Kassel vertreten war. Wie genau damals der Kontakt zustande kam, ist noch unerforscht; Beziehungen auf persönlicher Ebene oder über befreundete Pfarrer wären ebenso möglich wie die Vermittlung durch den „Kunstdienst“, eine einzigartige Plattform für zeitgenössische Kunst und Kunsthandwerk der grenzüberschreitenden evangelischen Kirchen.
Im Juli 1961, unmittelbar vor dem Mauerbau, waren Nahmmacher-Skulpturen in der kriegszerstörten Berliner Parochialkirche in einer vom Kunstdienst organisierten Ausstellung „Werkkunst der Kirche“ zu sehen, ebenso 1970 in der Ost-Berliner Marienkirche. Zum Thema „Christusbilder der Gegenwart“ wurden hier Gemälde, Grafiken, Plastiken, Gobelins und Kirchengerät gezeigt, unter anderem von Otto Dix, Alfred Manessier, Erwin Hahs – und eben von Elly-Viola Nahmmacher.
Die Muttergottes aus dem Kofferraum
Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings spitzte sich die Situation für nonkonforme Bürger in Greiz immer weiter zu. Reiner Kunze — er lebte hier mit seiner tschechischen Frau und den Kindern von 1962 bis 1977 — schreibt über den zunehmenden Druck in seinem Prosaband „Die wunderbaren Jahre“. Auch die mit ihm befreundete Holzbildhauerin wurde bespitzelt, wenn sie nicht im Garten war. 1977 gestaltete sie das Grabmal „Feuerapokalypse“ für Oskar Brüsewitz, jenen Pastor, der sich im August 1976 in Zeitz aus Protest gegen die Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen verbrannt hatte. Die Stele wurde von der Stasi weggeschlossen.
Elly-Viola Nahmmacher - Madonna mit Kind, Holz mit eloxiertem Aluminium, 1961Christian Freund, ThiesingDie gläubige Christin Nahmmacher hat sich immer wieder bildnerisch mit der Gottesmutter Maria beschäftigt: In einer katholischen Kapelle im sächsischen Pulsnitz findet sich eine anrührende Madonna mit Kind aus Lindenholz unter eloxiertem Leichtmetall (1961). Der Küster erinnert sich noch daran, wie der Dresdner Kunsthistoriker Eberhard Hempel sie „im Kofferraum“ herbrachte.
So hielt sie die Opposition durch
Auch Kreuzwege gestaltete sie mehrfach. Ein treuer Weggefährte aus Greiz, Winfried Arenhövel vom Nahmmacher-Freundeskreis, zeigt mir die Kreuzweg-Stationen in der Herz-Jesu-Kirche: vierzehn massive, doch auch durchbrochene circa hundert mal fünfzig Zentimeter große Reliefs (1983). Das Lindenholz fiel ihr aus dem Park zu, wo ein Sturm mehrere alte Bäume gefällt hatte. Die Figuren sind in expressionistischer Tradition und mit großer Dynamik gearbeitet; vor allem Jesus unter der Last des Kreuzes zieht einen in Bann. Mit dieser Arbeit ging die Bildhauerin an die Grenzen des Leistbaren und habe, so sagt Arenhövel, kaum noch schlafen können.
Die Unterseite der Basis der Pulsnitzer Madonna von Elly-Viola NahmmacherChristian Freund, ThiesingDas Leben der charismatischen Persönlichkeit, die in Greiz viele Freundschaften, gerade auch zu Jüngeren pflegte, scheint sich zu ihrer Zufriedenheit gerundet zu haben. Die Freunde hätten ihr geholfen und auch einmal Suppe vorbeigebracht, erzählt der Holzbildhauer Ralph Hübschmann: „In ihre Kunst hat sie sich nie dreinreden lassen.“ Zum achtzigsten Geburtstag wurde ihr eine Ausstellung im Greizer Sommerpalais ausgerichtet, und es erschien ein großformatiges Buch, gediegen gestaltet von Ulrike Weißgerber aus Leipzig.
Man gewinnt den Eindruck, dass Lahmmachers Glaube, Hauptinhalt des künstlerischen Werks, sie auch die Opposition zum ausspähenden Staat durchhalten ließ. So ist es kein Zufall, dass der visionäre Ritter Don Quixote mit seinem Pferd Rosinante zu den Lieblingsfiguren Elly-Viola Nahmmachers gehörte.

vor 15 Stunden
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