Pier Paolo Pasolini: Er kämpfte mit Jesus gegen den Kapitalismus

vor 1 Tag 3

Die italienische Zeitschrift „Vie Nuove“ („Neue Wege“) erschien zum ersten Mal im Jahr 1946, nach dem Ende des Faschismus. Sie stand der Kommunistischen Partei nahe, verstand sich aber als Publikumsmagazin und nicht in erster Linie als ideologisches Debattenorgan. Filmstars wurden in den „Vie Nuove“ gefeiert, die Sowjetunion kam immer gut weg, nur auf die damals beliebten „Fotoromane“ verzichtete man – diese gedruckten Seifenopern galten dann doch als zu bourgeois oder kleinbürgerlich. Im Jahr 1960 nahm der damals wichtigste linke Intellektuelle in Italien einen Dialog mit dem Lesepu­blikum der „Vie Nuove“ auf: Pier Paolo Pasolini war bis zu diesem Zeitpunkt vor allem als Schriftsteller bekannt gewesen, nun entdeckte er gerade das Kino. Und zwischen seinen vielen Verpflichtungen nahm er sich Zeit, auf Briefe aus dem ganzen Land zu reagieren.

Diese „Dialoge mit Pasolini“, die der Wagenbach Verlag nun in einer Auswahl vorlegt, sind ein einzigartiges Dokument in vielerlei Hinsicht. Denn sie geben zuerst einmal einen Einblick in eine Gesellschaft zu einer Zeit, in der in Europa Wirtschaftswunder bestaunt wurden und auch das rückständige Italien in Riesenschritten aufholte. Es melden sich Leute aus allen Winkeln des Landes, erzählen von ihren früh abgebrochenen Bildungsgeschichten, viele können sich die Bücher nicht leisten, die sie gern lesen würden. Sie sprechen Pasolini mit Du und mit Nachnamen an, in einer seltsamen Vertrautheit. „Wo ist das Leben, das ich leben wollte, die Arbeit, die Freundschaft, die Liebe?“, fragt eine junge Frau, die ihren Namen nicht nennen möchte. „Ich habe Angst, dass ich diese Trostlosigkeit eines Tages akzeptieren könnte, als wäre sie normal.“

Eine ideale Projektionsfigur

Pasolini antwortet immer in einem persönlichen Ton, bleibt aber stets der Intellektuelle, der Theoretiker, dem Linguistik so wichtig ist wie die „Krise des Marxismus“ – den er nicht zuletzt durch seine eigenen Kontakte zur Dritten Welt erneuern will. In einem beiläufigen Absatz fertigt er den Stalinismus nicht etwa wegen des Terrors, sondern wegen seines „irrigen Ansatzes in der Bauernfrage“ ab, wo die Bauern doch schon in Russland das „Subproletariat“ waren, auf das er nun in den Ländern südlich des Mittelmeers seine Hoffnungen setzt. Gleichzeitig arbeitet er zu dieser Zeit schon an seinem Film über das Matthäus-Evangelium („Il Vangelo secondo Matteo“), mit dem er das linke Establishment verstören sollte und mit dem er versucht, die „furchteinflößende Kraft Christi“ für seinen Kampf gegen den von ihm so bezeichneten „Neokapitalismus“ zu mobilisieren.

 „Dialoge mit Pasolini“.Hrsgg. v. Cornelia Wild: „Dialoge mit Pasolini“.Wagenbach

Pasolini war eine ideale Projektionsfigur für das Publikum von „Vie Nuove“, weil er sich allen Festlegungen entzog – nicht durch Beliebigkeit, sondern durch eine rastlose Suche nach Auswegen aus den ständigen Versuchungen des Konformismus. Während französische Autoren sich für das Zentrum der Welt halten, ist er immer unterwegs – im Sudan, in Palästina, aber auch zwischen den Medien. Er veröffentlicht Poesie, und als der Briefwechsel für „Vie Nuove“ schon an sein Ende kommt, wirft er dem Publikum einfach ein paar längere Skizzen hin, aus denen sein Film „Große Vögel, kleine Vögel“ (1966) wird. Dort vertritt ihn ein Rabe, er lässt Tiere an seiner statt sprechen oder schweigen.

„Dialoge mit Pasolini“ ist faszinierend als Zeitbild, auf fast jeder Seite findet sich ein interessanter Hinweis, ein kleines Porträt (so schwärmt er von Papst Johannes XXIII., an dem er hervorhebt, dass er in seiner Zeit als Kirchendiplomat in Istanbul bei Erich Auerbach Vorlesungen gehört habe) oder ein Gedanke, den manche vielleicht unwillkürlich auf die Gegenwart zu übertragen geneigt sind. Schließlich wird der Wunsch, einen irgendwie erneuerten Marxismus in Stellung zu bringen, heute nicht selten laut.

Filmhistorisch und auch in der Literatur bricht Italien um 1960 gerade mit dem Neorealismus. Die einen (Umberto Eco und andere) wollen in Richtung Avantgarde, die anderen in Richtung Parteidogmatik. Pasolini ging seinen eigenen Weg. Die „Dialoge“ lassen erkennen, dass er in seiner Einsamkeit nicht allein war. Die Dienstmädchen, die Poeten ohne Publikum, jene, die nach „der besten politischen Form für Italien“ suchten, an ihnen allen, die ihm schrieben, erkennt er etwas von sich und weist doch viele kritisch zurecht, stellt hohe Ansprüche. Die Revolution, so schreibt er, wird eine radikale Dezentralisierung der Macht hervorbringen müssen. Das Gespräch, das die „Vie Nuove“ mit und rund um Pasolini organisierten, wird da zum Vorschein einer Revolution, zu der es nie kam.

Hrsgg. v. Cornelia Wild: „Dialoge mit Pasolini“. Aus dem Italienischen von Fabien Vitali. Wagenbach Verlag,Berlin 2025. 256 S., br., 15,– €.

Gesamten Artikel lesen