Phantastischer Prag-Roman: Da treibt ja schon wieder ein Ozeandampfer durch die Stadt!

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Er ist so nah dran. In einem Café setzt sich ein Fremder zu ihm und lässt durch­blicken, dass er mehr über die phantastische Welt weiß, auf deren Spuren der Erzähler seit Neuestem immer wieder in seiner Heimatstadt stößt. Der Fremde, ein Universitätsdozent, berichtet von einer Studentin, die ihn in ihre große leere Wohnung in der Prager Kleinseite mitgenommen hat. Im Flur ist eine weiß gestrichene Tür, bemalt mit seltsamen Buchstaben, immer verschlossen. Eines Tages, als die Studentin kurz nicht in der Wohnung war, habe er die Tür nach längerem Probieren doch noch aufbekommen, sagt der Fremde dem atemlos lauschenden Erzähler, der in den unlesbaren Buchstaben das ­Zeichen der phantastischen Welt erkennt, die er so verzweifelt sucht.

In diesem Moment werden sie unterbrochen. Ein Kellner ruft den Fremden zum Telefon. Während der Erzähler auf ihn wartet, sieht er durchs Fenster: Zwei Männer kommen aufs Café zu, wenig später verlassen sie es wieder, nun mit einem auf eine Trage geschnallten Mann, ohne Zweifel der Fremde. Sie verschwinden mit ihm in einer Straßenbahn, die aussieht wie aus grünem Marmor gehauen. Und obwohl der Erzähler das seltsame Gefährt mit einem Taxi verfolgt, holt er es nicht ein. Was immer hinter der weißen Tür wartet, an diesem Tag erfährt er es nicht.

Eine Mischung aus Angst, Faszination und sanftem Neid

Der Erzähler in Michal Ajvaz’ Roman „Die andere Stadt“ hat bis dahin schon zu viel Unerklärliches erlebt, um lange über die grüne Straßenbahn zu staunen, die durch die Stadt fährt, plötzlich ihre verschneiten Schienen verlässt und im Wald verschwindet. Angefangen hatte es in einem Antiquariat ganz in der Nähe der Karlsbrücke. Dort fiel ihm ein Buch auf, eingebunden in violetten Samt und gedruckt in einer Schrift, die dem Erzähler völlig unbekannt war. Auch die Kupferstiche im Band halfen nicht viel weiter. Einer von ihnen zeigte einen quadratischen, ringsum von Häusern eingefassten Platz, fast menschenleer, bis auf ein Paar am einen Ende und einen jungen Mann am anderen, der, auf dem Boden liegend, von einem Tiger zerfleischt wird.

 „Die andere Stadt“. Roman.Michal Ajvaz: „Die andere Stadt“. Roman.Allee Verlag

Die rätselhaften Buchstaben – der Erzähler wird später 72 unterschiedliche identifizieren – sind ein Erkennungs­zeichen für jene Welt, der das Buch entstammt und die der Erzähler von nun an überall in Prag zu finden hofft. In seiner Wahrnehmung tanzen und vibrieren die Lettern, und als er andere Menschen trifft, die ebenfalls mit solchen Büchern in Berührung gekommen sind, berichten sie von ganz ähnlichen Erfahrungen. Der Erzähler hört davon in einer Mischung aus Angst, Faszination und, wie es scheint, sanftem Neid.

Er sucht, bis es gefährlich wird

Ein Bibliothekar, dem er das Buch zeigt, das er mittlerweile immer mit sich trägt, kann die Schrift zwar genauso wenig entschlüsseln wie er selbst, erinnert sich aber an einen Abend vor vielen ­Jahren, als er eine Wohnung am Moldau-Ufer aufsuchte, um den Nachlass eines Bibliophilen zu sichten, und dort einen mit einer Schnalle verschlossenen Band mit ähnlichen Schriftzeichen öffnete. Im nächsten Moment ergoss sich ein grünes Licht ins Zimmer, gefolgt von einem Tsunami, aus dem ein riesiger Fisch vor dem Fenster auftauchte und den Bibliothekar in einer langen mäandernden Rede an einen verdrängten Schreckens- und Sehnsuchtsmoment aus dessen Vergangenheit erinnerte. Es ist der Besuch eines abgeranzten Kinos, eine Botschaft, die direkt von der Leinwand aus in Form eines Balletts von Meerestieren an ihn allein gerichtet wurde, die versuchte Flucht aus dem geschlossenen Raum und schließlich die meckernde Aufseherin und ihre Prophezeiung, die ihm nun der Riesenfisch erneut unter die Nase reibt: „Du würdest tausend Jahre in diesem schmutzigen dunklen Saal sitzen und dir auf der Leinwand in einer Endlosschleife die peinlichsten Szenen aus deinem Leben anschauen, vorgeführt vom Fischschwarm.“

Der Bibliothekar findet einen Weg, später mit der grotesken Situation umzugehen. In der Wohnung des Bibliophilen, so ergibt es eine Untersuchung, war eine ­Karaffe mit einer grünen Flüssigkeit, die unter bestimmten Umständen halluzinogene Dämpfe freigibt, mit anderen Worten: alles nur ein Traum. Der Erzähler aber macht bald selbst noch viel wunderbarere Erfahrungen und weigert sich, diese als Visionen abzutun. Und während der Bibliothekar nichts mit dieser Welt, die an den Rändern seines Bewusstseins aufgetaucht ist, zu tun haben will, sucht der Erzähler geradezu nach ihr, so lange, bis es gefährlich wird, und noch darüber hinaus.

Dann eben ein eigener Verlag

Denn die Bewohner jener anderen Welt, die ihn so fasziniert und die auf vielfältige Weise mit dem alltäglichen Prag verbunden ist, erweisen sich rasch als feindselig ihm gegenüber. Sie haben ihre eigenen Riten, und weil er arglos in Zusammenkünfte stolpert, in denen etwa alle kleine Holzkisten mit Wieseln darin mit sich herumtragen oder in denen zum Eintritt ein auf dem Altstädter Ring erlegter Fisch hervorgezeigt werden muss, fällt er, der derlei nicht besitzt, als Störenfried auf, als uneingeladener Besucher einer streng regulierten Party.

Durch das Fenster der Straßenbahn erhält auch Prags Kleinseite ein neues Gesicht. Dafür muss die Tram gar nicht grün und aus Marmor sein. Aber es hilft.Durch das Fenster der Straßenbahn erhält auch Prags Kleinseite ein neues Gesicht. Dafür muss die Tram gar nicht grün und aus Marmor sein. Aber es hilft.Visum

Auf Mitleid kann er dabei nicht hoffen, und mehrfach entkommt er nur mit knapper Not. Einmal führt ihn seine Neugier nachts auf die Aussichtsplattform um den Turm der Nikolauskirche im Prager Viertel Kleinseite, als plötzlich ein Hai durch die Nacht geflogen kommt, ihn zu Boden wirft und attackiert. Seine Begleiterin, eine junge Frau namens Alweyra, die sich darauf vorbereitet, in jener anderen Welt Priesterin zu werden, meint dazu höhnisch: „Warum bist du allein in eine fremde Stadt aufgebrochen, wo dich niemand will? Jetzt wird der Hai deinen abgebissenen Kopf um die Aussichtsgalerie herum rollen, und kleine Kinder werden in unseren Schulen Kinderreime und Abzählverse über dich lernen.“ Ganz so kommt es nicht, aber später erfährt er immerhin, dass der nächtliche Kampf auf Leben und Tod für Alweyras Mitbürger live im Fernsehen übertragen worden ist.

Michal AjvazMichal AjvazWikimedia/Jaramo81

Wenn sich zwei Welten gegenüber­stehen, sind die Übergänge umso interessanter, weil dort die Gegensätze auf­einanderstoßen. Der tschechische Autor, Philosoph und Literaturwissenschaftler Michal Ajvaz, geboren 1949 in Prag, hat seinen Roman „Die andere Stadt“ (im Original „Druhé město“, also „Die zweite Stadt“) in der Zeit um die „Samtene Revolution“ von 1989 geschrieben und 1993 veröffentlicht, und ein Bewusstsein für den Möglichkeitsraum in jeder Realität ist ihm eingeschrieben. Bis heute findet das Buch des Autors, der in der kommunistischen Zeit unter anderem als Nachtwächter arbeiten musste, enthusiastische Leser in vielen Ländern, und dass ausgerechnet eine deutsche Übersetzung bis zu diesem Herbst auf sich warten ließ, ist schwer zu verstehen. Die gebürtige ­Pragerin Veronika Siska, die in München aufwuchs und bereits Ajvaz’ Kurzgeschichtensammlung „Die Rückkehr des alten Waran“ 2019 ins Deutsche brachte, fand dann auch für ihre Übersetzung von „Die andere Stadt“ keinen Verlag, sodass sie kurzerhand ihren eigenen gründete. Im ersten Programm ihres Allee Verlags erscheint nun Ajvaz’ Roman zusammen mit einem Buch des nordschwedischen Autors Mattias Timander. Weitere Werke von Ajvaz sollen folgen.

Eine Tradition, die ihre große Zeit hinter sich hat

Siskas Enthusiasmus versteht man sofort, nicht nur um der funkensprühenden Erzählung willen, der gläsernen Statuen, in denen Leuchtfische schwimmen, des unterirdischen Doms, in dem heimliche Messen abgehalten werden, der verschwiegenen Bibliotheksgänge voller Bücher in verschiedenen Stadien der Auf­lösung, die unmittelbar in eine amazonashafte Wildnis führen. Ein phantastischer Roman in jeder Hinsicht, gewiss, auch das Spiel mit Motiven der Romantik und allen voran Hoffmanns „Der goldene Topf“ ist unübersehbar. Aber wie jedes große Werk dieser Richtung erschöpft sich „Die andere Stadt“ nicht darin, sondern weist in unsere Wirklichkeit. Zum Beispiel mit hinreißenden Details wie dem Bericht vom Nationalepos der Parallelgesellschaft, das den Titel „Der kaputte Teelöffel“ trägt und von einem Gelage erzählt, in dessen Verlauf es zu Streit und sogar zu einem Mord kommt. Um die Tat zu sühnen, reist der Mörder in den tiefsten Dschungel und gründet auf einer Lichtung eine Stadt, genau dort, wo Indigene einem geflügelten Hund ein Standbild errichtet haben. Das erinnert an den Mythos um die tschechische Herrscherin Libuše und die ihr zugeschriebene Gründung von Prag in der Wildnis des Moldauufers. Von ihr erzählt die 1817 „gefundene“, angeblich mittelalterliche „Grünberger Handschrift“, die wenig später als moderne Erfindung entlarvt wurde. In Ajvaz’ Roman hält ein Protagonist den „Kaputten Teelöffel“ für „eine eher misslungene Fälschung aus dem vorigen Jahrhundert“.

So phantastisch die Erfindung der „anderen Stadt“ ist, so fest steht das Buch wiederum im Prag unserer Realität. Der Erzähler bewegt sich hier auf einem sehr überschaubaren Terrain, das vom Hradschin und dem Kloster Strahov auf der einen Moldauseite bis zum Umfeld des Altstädter Rings auf der anderen Seite reicht. Ajvaz betont das, indem er die Straßen auf den Wegen seines Erzählers benennt, sodass man ihm mühelos folgen könnte. Zugleich spielt der Roman mit einer Tradition, die ihre große Zeit schon hinter sich hat: Es ist die des mystischen, magieschwangeren Prags, die im neunzehnten Jahrhundert entsteht und Rabbi Löw mit seinem Golem aufs Podest hebt, gar nicht genug Nebel heraufbeschwören kann und in Gustav Meyrinks Romanen gipfelt – der Literaturwissenschaftler Peter Demetz hat oft genug über diese Konnotierung seiner Heimatstadt geseufzt.

Ein großes Versprechen wird mühelos eingelöst

All das schwingt in Ajvaz’ „Die andere Stadt“ mit, aber der kluge Autor löst sein Werk daraus, indem er gerade nicht die erlebte Stadt mystisch einfärbt, sondern sie im Gegenteil entmystifiziert und alles Wunderbare in die diffuse Grenzregion zur anderen Stadt hin verschiebt. Damit kommt der Roman zu sich selbst: Es geht um die Entscheidung jedes Einzelnen, die Augen für das Zwielicht zu öffnen oder den Blick abzuwenden, wozu sich der Bi­bliothekar entschlossen hat, während der Erzähler das Land jenseits der Spiegel, der weißen Tür oder der Ritzen zwischen Wäscheschrank und Tapete erkundet – ob er am Ende selbst in die grüne Straßenbahn steigt, die ihn unwiderruflich in die andere Stadt bringen würde, bleibt offen.

„Ein Land an der Küste“ ist das Motto, das Tschechien für seinen Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse im kommenden Jahr gewählt hat. Mit seinen aggressiven Haifischen, fliegenden Rochen und durch die Prager Altstadt treibenden Ozeandampfern löst Ajvaz’ Roman das Versprechen mühelos ein. Und läutet zugleich das Gastlandjahr ein, wie es schöner nicht beginnen könnte.

Michal Ajvaz: „Die andere Stadt“. Roman. Aus dem Tschechischen von Veronika Siska. Allee Verlag, München 2025. 208 S., geb., 27,– €.

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