Bücher mit aufsehenerregenden Thesen verlieren mit der Zeit an Sensationswert – das ist der Lauf der Welt. Anders verhält es sich bei „Aufstieg und Fall der großen Mächte“, dem Buch, das Paul Kennedy 1987 berühmt machte, den britischen Historiker, der in Newcastle studierte, in Oxford promoviert wurde und seit 1983 in Yale lehrt. Verblüffend erscheint im Rückblick der Zeitpunkt der Publikation: Der britische Historiker sagte den Niedergang der Vereinigten Staaten voraus. Ausgerechnet kurz vor Beginn ihres unipolaren Moments! Wie kam Kennedy dazu? Erreichten die Vereinigten Staaten nicht gerade einen neuen Höhepunkt ihrer Macht? Wirtschaftlich, politisch, militärisch?
Kennedy machte Voraussagen für fünf Machtzentren: die Sowjetunion, Amerika, Europa, Japan und China. Nicht nur beschrieb er treffend den Niedergang Moskaus. Auch den Wiederaufstieg Chinas erkannte er früh. Selbstkritisch gibt Kennedy heute zu, dass er die Vorzeichen einer Stagnation Japans in den Neunzigerjahren nicht sah. Dafür charakterisierte er Europa nicht ungerecht als eine zivilisierte Gegend, wohlhabend und nett, die sich aber nicht dazu aufraffen könne, in der Außen- und Verteidigungspolitik wie ein einzelner Akteur zu handeln.

Und die Vereinigten Staaten? Ausgangspunkt der These vom amerikanischen Niedergang war Kennedys Beobachtung, dass es lange dauere, bis ein Imperium sterbe. Er verwies auf das Osmanische Reich, über dessen Niedergang man schon im achtzehnten Jahrhundert gesprochen habe. Bestanden hat es dann aber bis zum Ende des Ersten Weltkrieges.
Sein Plädoyer für eine Weltregierung war Wunschdenken
Ausschlaggebend für Kennedys Prognose einer imperialen Überdehnung der Vereinigten Staaten und damit ihres relativen Abstiegs im Vergleich zum Aufstieg Chinas und Indiens war seine Schlussfolgerung aus der Zusammenschau von ökonomischem Wandel und militärischen Konflikten seit dem sechzehnten Jahrhundert, dass ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Basis und den außenpolitischen Engagements und Verpflichtungen einer Großmacht bestehe. Wie sehr Kennedy hier richtig lag, zeigt die in der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump einmal mehr zugespitzte Debatte über die sicherheitspolitische Lastenverteilung zwischen Amerikanern und Europäern.

Im Windschatten der großen Mächte und ihres die globalen Nachrichten dominierenden Handelns oder auch Nichthandelns hat sich Kennedy zwei Jahrzehnte später mit dem „Parlament der Menschheit“ auseinandergesetzt – der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Vereinten Nationen. Zwar zeichnete er bereits damals das Bild einer fehlbaren und oft von den großen Mächten abhängigen Weltorganisation – für dessen Triftigkeit heute noch mehr sprechen dürfte. Eben deshalb sieht sein damaliges Plädoyer für eine Weltregierung nach Wunschdenken aus.
Lektionen des Jahres 1944 für den Ukrainekrieg
Im realistischen Kontrast dazu steht eine Studie von Kennedy, die heute ungemein aktuell erscheint und zur Pflichtlektüre von jedem werden sollte, der sich mit der neuerlich blutigen Gegenwart Europas beschäftigt: Zehn Jahre vor Russlands Vollinvasion der Ukraine porträtierte Kennedy die „Ingenieure des Sieges“ („Engineers of Victory“) der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Wie heute im Abwehrkampf der Ukrainer gegen die Russen ging es auch in den Jahren 1943 und 1944, in denen die alliierten Streitkräfte die Oberhand gegenüber den Armeen der Achsenmächte erlangten, nicht zuletzt um technische Innovationen und taktische Neuerungen. Und auch damals war noch lange nichts final entschieden – nur in der historischen Rückschau wirkt es mitunter so.
An den Anfang von „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ setzte Kennedy ein arabisches Sprichwort: „Wer die Zukunft richtig voraussagt, ist nicht weise, sondern hat Glück.“ Dass es ihm weiter hold sei, wünschen wir ihm zu seinem heutigen achtzigsten Geburtstag.