Patrick Modiano hat sich mit schmalen Büchern die größten Ehrungen er- und in die Literaturgeschichte eingeschrieben, bis hin zum Literaturnobelpreis, den er 2014 erhielt. Da war der französische Schriftsteller längst so etwas wie sein eigenes Zeitzeichen: der Mann, der die Vergangenheit aufrührt, um die Gegenwart zu verstehen. Seine historischen Romane sind nicht nur deshalb anders, weil sie dem Umfang nach keine Wälzer sind, sondern auch, weil sie kein Hehl aus ihrer Haltungsgegenwärtigkeit machen: Kein einziger Modiano-Roman hätte zur Zeit seiner Handlung geschrieben werden können, in allen Stoffen dieses Meistererzählers ist die Zukunft bereits eingebaut. Es sind keine historischen, es sind prognostische Romane. Mit ihnen verstehen wir unsere Gegenwart besser als die Vergangenheit.
Das begann 1968, ausgerechnet in jenem französischen Epochenjahr, als der Beginn vom Ende der politischen Laufbahn Charles de Gaulles eingeleitet wurde und damit auch das der Selbstgewissheit einer französischen Siegergeneration, die aus dem nationalen Mythos Résistance die Rechtfertigung ihrer allen proklamierten Menschenrechten spottenden Kolonialrückzugskriege in Indochina und Nordafrika zog, weil sie ja schon einmal die Zivilisation verteidigt und gerettet hatte. Diesen Selbstbetrug geißelte Modiano, indem er den Fokus seines Frühwerks zwar auf die deutsche Besatzungszeit richtete, sie aber nicht als Probe auf Heroismus anlegte, sondern bereits als Prüfstand des Humanismus.
Vergangenheit ist bei Modiano immer auch gegenwärtig
„Place de l’Étoile“ hieß der Debütroman von 1968, kaum mehr als 150 Seiten stark und doch eine Innenweltreise von kosmischem Ausmaß, weil im Halluzinieren des Erzählers Raphael Schlemihlovitch (der bereits durch seinen Namen als Erbe einer der großen aus eigenem Versäumnis tragischen literarischen Figuren, Chamissos Peter Schlemihl, ausgewiesen ist) die gesamte jüngere Vergangenheit nicht als Kontinuum, sondern als sich wechselseitig überlappende Ereignisse vorgestellt werden – kommunizierende Röhren, durchaus auch im Sinne des Surrealismus, mit dem Modiano aufwuchs. Schlemihlovitch ist ein Nachkriegskind (ein zeitlich unmittelbares, genau wie sein Autor, der selbst Jahrgang 1945 ist), aber er berichtet, als hätte er die Besatzungszeit persönlich erlitten. Seinem Autor Modiano brachte dieses betörende Verwirrstück im Alter von 23 Jahren gleich zwei wichtige französische Debütpreise ein, 1972 gab es dann bereits den Großen Romanpreis der Académie française für „Außenbezirke“ (ein Buch von im Original 175 Seiten) und 1978, im Alter von gerade einmal 33, die wichtigste französische Literaturauszeichnung, den Prix Goncourt, für „Die Gasse der dunklen Läden“ (180 Seiten).
All diese schmalen Bücher machen die Welt weit, weil sie offenlegen, was im Innersten ihrer Figuren vorgeht – und das ist alles andere als eng. Nicht umsonst weist Raphael Schlemihlovitch im Debütroman, als er einen deutschen Offizier imaginiert, der ihn nach dem Standort des Place de l’Étoile fragt, als Antwort auf die eigene Brust: Paris, Hauptschauplatz von fast allen Büchern Modianos, ist nicht nur dem Autor Herzenssache. Ohne den Rahmen dieser geliebten Stadt wären all die menschlichen Liebesgeschichten undenkbar, die wiederkehrenden Suchen nach verlustig gegangenen Frauen, die Modianos Erzähler antreiben (wenn dieses Wort bei solch bedachtsamen Büchern gestattet ist), seit er 1997 seine schönste und mit mehr als zweihundert Seiten umfangreichste Geschichte, „Dora Bruder“, geschrieben hat. So ist es auch noch in den beiden jüngsten Romanen, „Unsichtbare Tinte (2019, 140 Seiten, und „Die Tänzerin“ (2023, nicht einmal mehr hundert).
Patrick Modianos Literatur hat sich seit 1968 nicht breitgemacht, aber Epoche im buchstäblichen Sinne. Heute wird er achtzig Jahre alt, so alt wie die Nachkriegszeit.