Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Ich bin dann in sein Zimmer im ersten Stock gegangen und fand ihn bewusstlos auf dem Bauch liegend. Und ich ahnte auch, dass ich zu spät gekommen bin.«
Wenige Milligramm können ausreichen, um einen Menschen zu töten. Trotzdem nehmen immer mehr Jugendliche synthetische Opioide.
Marco, Schüler:
»Ich kenne aber ein paar Leute auf jeden Fall, wo ich das schon weiß, dass sie damit Kontakt haben und dass sie sie vielleicht sogar konsumieren.«
Wir zeichnen den Weg einer Sucht nach, die tödlich endete.
Titus Holze. Bruder von Tilman:
»Das war ein ganz anderer Mensch, der nüchterne und der konsumierte Tilman.«
Und wollen wissen, wie leicht Jugendliche heutzutage in Kontakt mit diesen Substanzen kommen.
Ein Friedhof bei Münster. Hier liegt Tilman Holze. Gestorben mit 24 Jahren an einer Überdosis Fentanyl. Heute besucht ihn seine Familie – insbesondere Tilmans Mutter kommt fast jeden Tag hierher.
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Am Anfang habe ich gedacht, so die ersten Wochen, als ich hierher, das kann nicht wahr sein, dass das mein Weg wird, der mich jetzt jeden Tag andauernd hierherführt. Das kann nicht wahr sein, dass meine Zeit auf dem Friedhof zugebracht wird. Und wenn ich Zwiesprache halte, dann eigentlich nicht in meinem Alltag, sondern hier mit ihm.«
Vor acht Jahren hat die Familie den ältesten von drei Brüdern verloren. Heute noch erinnert dieses Bild an seinem alten Hausaufgabenplatz an den jungen Mann, der schwer abhängig von Opioiden war.
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Und Tilman mochte auch Blumen. Konnte zwar keinen Namen, Rose hätte er wahrscheinlich noch erkannt, aber er sagt immer: Mama, wie heißen dann die schönen gelben? Jedes Jahr aufs Neue. Und da musste ich sagen: Das sind Narzissen oder Osterglocken. Ach, wo du es sagst, jetzt fällt es mir wieder ein. «
Tilman in einem Sommerurlaub 2006 – kurz bevor die Suchterkrankung sein Leben für immer verändert. Er wird als neugierig, experimentierfreudig, als Menschenmagnet beschrieben. Skater, Gamer, großer Bruder – mit 16 dann der erste Joint. Und Tilman fährt den Konsum schnell hoch.
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Er hat konsumiert während der Schulzeit und zu Hause und abends sowieso. Das heißt, dieser Konsum ist ganz schnell zu einem extremen Konsum geworden. Aus dem gelegentlichen Ausprobierer wurde in null Komma nix ein schwerer Kiffer.«
Es ist der Beginn einer langen Leidensgeschichte für Tilman und seine Familie. Es bleibt nicht bei Cannabis, seine Mutter entdeckt bald Medikamenten-Packungen in seinem Zimmer. Tilman freundet sich mit Dealern in Münster an – und hat so offenbar schon früh Kontakt mit härteren Drogen. Die Familie zeigt uns Fotos aus der Zeit.
Erhard Holze, Vater von Tilman:
»Dies hier ist auf so einem Mauervorsprung in Meersburg am Bodensee, bei unserem Urlaub.«
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Da konsumierte er auch schon, aber wir haben eben so lange und soweit es ging bis zum Ende unsere Urlaube immer angeboten und geöffnet. Tillmann wollte tatsächlich immer unheimlich gern mit.«
Titus Holze, Bruder von Tilman:
»Ich meine, das ist wirklich dieser Vergleich von den beiden Bildern. Das war ein ganz anderer Mensch, der nüchterne und der konsumierte Tilman. Zwei Menschen. Ganz, ganz unterschiedlich.«
Tilman bleibt nun immer wieder nächtelang verschwunden, verstrickt sich in Lügen und macht Schulden. Seine Eltern stellen ihn zur Rede und versuchen, ihrem Sohn zu helfen. Tilmann bereut – seine Eltern verzeihen. Dann geht das Spiel wieder von vorn los. Für ein Psychologie-Studium in den Niederlanden fährt er seinen Konsum zunächst stark zurück. Doch dann geht es bergab.
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Im Nachhinein haben wir dann erfahren, dass beide Kommilitonen, mit denen er da zusammengezogen war, massiv im Konsum standen. Das wussten wir aber natürlich nicht, sonst hätten wir das sicherlich versucht zu unterbinden. Und es waren dort andere Drogen unterwegs als hier in Münster.«
Fabian Pieper, DER SPIEGEL:
»Wissen Sie welche?«
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Ich weiß nur, dass es sehr harte Drogen waren. Das hat Tilman auch hinterher zugegeben. Ich sag mal so, mit meiner heutigen Erkenntnis vermute ich, dass dort dann auch die Opioide begonnen haben.«
Was sind Opioide und insbesondere Fentanyl überhaupt, und wie machen diese Stoffe süchtig?
Opioide sind starke Schmerzmittel – das bekannteste Beispiel ist Morphin, gewonnen aus dem Saft des Schlafmohns. Es gibt auch synthetische Varianten, wie Tilidin oder das besonders potente Fentanyl, verabreicht unter anderem als Tabletten, Tropfen oder auch Pflaster.
Fentanyl ist 100-mal stärker als Morphin und wird etwa gegen starke Schmerzen bei Krebsbehandlungen oder schweren Verbrennungen eingesetzt.
Doch genau diese Potenz macht Fentanyl so gefährlich: Schon etwa zwei Milligramm können für einen Menschen tödlich sein. Vor allem, wenn es als Droge missbraucht wird, ist das Risiko einer Überdosis deshalb hoch – zumal auf dem Schwarzmarkt immer neue, noch stärkere Varianten auftauchen.
Opioide lindern nicht nur Schmerzen, sondern machen auch high – und können leicht abhängig machen. Der Körper gewöhnt sich rasch daran – wer aufhört, bekommt Entzugserscheinungen. Um den Rausch immer wieder neu zu spüren, brauchen Abhängige immer mehr Stoff.
So rutscht auch Tilman immer tiefer in die Sucht.
Doch wie leicht kommen Jugendliche mittlerweile in Kontakt mit Mitteln wie Fentanyl oder Tilidin?
Um das herauszufinden, begleiten wir Familie Holze an einem Vormittag zur Gesamtschule Münster. Die Familie hat eine Stiftung in Tilmans Namen gegründet und erzählt Schülerinnen und Schülern seine Geschichte.
Heute sitzen etwa 100 Neuntklässler im Publikum.
Manuel Van Megen, Lehrer:
»Das wird ein ganz besonderer Vortrag. Das ist auch hart. Das nimmt einen auch emotional mit. Und das ist auch gut. Lasst das an euch ran, lasst das in euch arbeiten. Vielen Dank, dass Sie da sind.«
Titus Holze, Bruder von Tilman:
»Ihr glaubt nicht, wie viel bei uns geweint wurde, geschrien wurde, wie viel Angst wir alle zusammen hatten. Und so scheiße, wie ich mich jetzt fühle, müsst ihr euch Tilman mal hundert vorstellen.«
Erhard Holze, Vater von Tilman:
»Und er hatte es sich irgendwann zur Angewohnheit gemacht, den Vormittag nicht in der Schule zu verbringen, sondern sich auf diesen Abenteuerspielplatz zu begeben, seine diversen Medikamente zu konsumieren, um dann wieder zu Hause aufzutauchen. Und wir dachten natürlich alle, er kommt von der Schule zurück.«
Bei vielen Schülerinnen und Schülern wirft der Vortrag Fragen auf.
Schülerin:
»Wie ist das für dich als jüngerer Bruder gewesen?«
Nach dem Vortrag suchen einige Jugendliche noch das persönliche Gespräch mit Familie Holze. Vielen geht das Thema sehr nah – sie erleben Drogen und Sucht im eigenen Umfeld.
Marco, Schüler:
»Ich kenne ein paar Leute, auf jeden Fall, wo ich schon weiß, dass sie damit Kontakt haben und dass sie sie vielleicht auch schon konsumieren.«
Fabian Pieper, DER SPIEGEL:
»Und hast du das Gefühl, das ist auch etwas, was in der Jugendkultur, in der Musik, glorifiziert wird? «
Marco, Schüler:
»Ja, es kommt darauf an, ich würde sagen, in manchen Genres schon. Also besonders, wenn man Richtung Rap geht und so was, da geht es viel um Drogen.«
Opioide erlebten um das Jahr 2019 auch in der deutschen Rap- und Hip-Hop-Szene einen Hype als Szene-Drogen, insbesondere Tilidin, das zwar schwächer als Fentanyl ist, aber dennoch leicht abhängig machen kann.
Auch, wenn sich Rapper wie Capital Bra mittlerweile öffentlich gegen Tilidin-Verherrlichung positionieren: In einem aktuellen Bericht der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht heißt es:
»Junge Personen im Alter von ca. 16 bis 25 Jahren werden als wichtige und wachsende Gruppe für den missbräuchlichen Konsum von Tilidin, Tramadol und Co. beschrieben. Diese Gruppe sei zumindest in Teilen konsumnaiv und sich des Abhängigkeitspotenzials sowie der Gesundheitsrisiken nicht bewusst. «
Von einer akuten Opioid-Krise wie in den USA kann in Deutschland zwar keine Rede sein. Doch wie viele Menschen tatsächlich mit solchen Mitteln in Kontakt kommen, ist unklar – verlässliche Daten fehlen.
Trotzdem wurden 2024 Mittel in Höhe von über 4 Millionen Euro für die Suchtprävention vom Bund nicht verlängert. Und das, obwohl mit der Cannabislegalisierung eigentlich eine Stärkung versprochen wurde.
Und so wird die Aufklärungsarbeit von privaten Initiativen, wie die der Holzes, immer wichtiger.
Tilmans Eltern wissen, wie schwer der Weg aus der Sucht ist, selbst, wenn die Familie versucht zu helfen.
Erhard Holze, Vater von Tilman:
»All diese Gesprächsversuche hat er immer abgeblockt, nach dem Motto, er habe keine Probleme. ›Verdammt noch mal...‹, er brach ein Gespräch ab, wurde wütend, stampfte auf, hier im Wohnzimmer, und sagte ›verdammt nochmal, das einzige Problem an meinem Drogenkonsum ist, dass ihr damit eins habt.‹«
Titus Holze, Bruder von Tilman:
»Ich kannte irgendwann Tilman eigentlich nur noch krank, weil die gesunden Momente bei der Arbeit oder so was, habe ich nicht mehr erlebt. Weil einfach kein Raum mehr war in der Abhängigkeit und wenn Til konsumieren musste, dann war es nicht gut, wenn ich dabei war, natürlich.«
Tilman bricht sein Studium in den Niederlanden ab, kommt für eine Ausbildung zurück nach Münster – und konsumiert immer mehr. Er macht eine Entgiftung, sucht vergeblich Therapieplätze, will loskommen von der Sucht und fällt doch immer wieder zurück. Seine Eltern wollen ihm helfen, Tilman zieht wieder bei ihnen ein.
Dann kommt der 16. März 2017. Tilman versucht an diesem Tag erneut einen Platz in einer psychiatrischen Suchtklinik zu bekommen, wird jedoch abgelehnt. Zuhause zieht er sich sofort zurück. Seine Mutter sorgt sich und will nachschauen.
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Und bin dann in sein Zimmer im ersten Stock gegangen und fand ihn bewusstlos auf dem Bauch liegend auf der Erde vor, blau. Das heißt, er war schon lange, lange unterversorgt mit Sauerstoff. Und ich ahnte auch, dass ich zu spät gekommen bin, habe aber trotzdem meinen Mann gerufen, geschrien, er möge kommen, wir mussten ihn unbedingt umdrehen und ich dachte, es geht um jede Sekunde, jede Sekunde zählt. Vielleicht können wir ihn noch retten. Na ja, und habe dann mit der Reanimation begonnen, während mein Mann Notarzt und Krankenwagen alarmierte. Und tatsächlich ist es den Fachleuten dann gelungen, seinen Herzschlag tatsächlich noch einmal zurückzubekommen. Ich vermute, dass Til hirntot war zu dem Zeitpunkt.«
Tilman stirbt drei Tage später im Krankenhaus. Mit nur 24 Jahren.
Für die Familie beginnt ein jahrelanger Kampf, wieder ins Leben zurückzufinden. Tilmans Mutter hat Suizidgedanken, sein Bruder Titus Depressionen, der Vater erleidet einen Herzinfarkt – Tilmans jüngster Bruder Tobias möchte momentan nicht in die Öffentlichkeit – alle leiden unter dem Verlust, unter Selbstvorwürfen und Trauer.
Erhard Holze, Vater von Tilman:
»Ich bin für immer vernarbt. Die Narbe hat natürlich eine gewisse Festigkeit gewonnen, eine gewisse Stabilität, aber es ist eine Narbe, genauso wie diese Leerstelle, bleibt halt diese Narbe auch ein Begleiter und eine Begleiterin für mich. Für immer.«
Seit Tilmans Tod setzt sich seine Familie unermüdlich dafür ein, andere vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
Titus Holze, Bruder von Tilman:
»Ich würde mir sehr wünschen, dass ich irgendwann Tilman noch mal begegnen kann und wir über Vergangenheit und Zukunft sprechen. Und ich hoffe auch, dass Tilman unser Leben hier noch irgendwie sieht. Und wenn nicht, ist das ganz bitter traurig. Aber dann ist das so und ich glaube, die Trauer haben wir schon intensiv alle durchlebt.«
Christiane Holze, Mutter von Tilman:
»Also das ist schon sehr, sehr präsent, das Thema Vergänglichkeit, wenn man hier bei seinem Sohn steht. Wir haben uns damals für dieses Familiengrab entschieden und das ist so gestaltet, dass hier vier Personen ihren letzten Ort finden werden. Und ich weiß, das ist der Ort, an dem ich eines Tages auch sein werde. Und wenn ihr Zeit habt, werdet ihr hierherkommen. Und dann ist da eben nicht nur der Bruder, sondern auch die Mutter, der Vater, vielleicht die Oma. Das rückt schon nah, das Ende, durch so eine Erfahrung.«