Der Herr auf Nebensitz ist so beglückt, wie ein Philatelist, der endlich die fehlende Briefmarke zur Vervollständigung seines Sammelgebietes erwerben konnte. Mit der französischen Fassung von „Il Trovatore“ hat der langjährige Besucher des Wexford-Opernfestivals an der irischen Ostküste jede von Giuseppe Verdis Überarbeitungen seiner Opern gesehen. Es mag verwundern, dass das Spezialfestival für Raritäten seine diesjährige Saison mit einem der beliebtesten Werke des Weltrepertoires eröffnet hat. Da aber die 1857, vier Jahre nach der erfolgreichen römischen Uraufführung, für Paris erstellte Version mit dem Titel „Le Trouvère“ selten dargeboten wird, erfüllt sie das selbstgestellte Kriterium, sich vergessenen oder vernachlässigten Werken zu widmen, dem Wexford sein Renommee verdankt. Der französischen Tradition entsprechend, ist die Neufassung um ein Ballett im dritten Akt erweitert und an verschiedenen Stellen meist unerheblich, beim verlängerten Finale allerdings eher unvorteilhaft modifiziert worden.
Auf dem Vorhang prangen John Donnes Zeilen über die Verbundenheit der Menschen zueinander. Mit dem unheilvollen Trommelwirbel zum Auftakt der Oper wird der Satz, wonach jeder Tod eines Menschen die Gesamtheit treffe, durch die berühmten Worte zu Ende geführt, die Ernest Hemingway für den Titel seines Romanes, „Wem die Stunde schlägt“ verwendete. Womit Ben Barnes dem Publikum elegant beibringt, dass er, wie schon manch anderer Regisseur, Verdis Oper aus dem 15. Jahrhundert in den spanischen Bürgerkrieg verlegt hat. Aus den königstreuen Aragonesern sind Franquisten geworden, die unter dem Befehl des Grafen von Luna gegen die Republikaner vorgehen. In deren Lager wird der sogenannte Zigeunerchor mit der antifaschistischen Parole „No paseran“ zum fröhlichen Kampfaufruf, bei dem die Soldaten zu den Ambossschlägen aus dem Orchestergraben ihre Gewehrspitzen auf die große Glocke über der Bühne legen.
Der „Troubadour“ auf Französisch ist kein Gewinn
Die Schicksalsglocke, die Verdi wiederholt einsetzt, könnte als Symbol des diesjährigen Festivalthemas „Mythen und Legenden“ dienen. Allen Helden der drei Opern im Hauptprogramm schlägt die Stunde: Der Troubadour wird bekanntlich enthauptet, in Händels letzter Oper „Deidamia“ steuert Achilles unter dem feurigen Dirigat des gleichzeitig Regie führenden George Petrou dem vom Orakel vorausgesagten Tod in Troja zu, und in Frederick Delius „The Magic Fountain“ setzt sich der von der Suche nach der Quelle ewiger Jugend besessene spanische Conquistador Solana über alle Warnungen hinweg, dass das Wasser ihn vergiften werde. Bei allem Vergnügen an der Entdeckung von Raritäten in Wexford weckt nur eine den Wunsch nach einer Wiederaufführung.
Der „Troubadour“ auf Französisch ist kein Gewinn, besonders weil das hinzugefügte Ballett dem Drama durch die gnadenlose Länge abträglich ist. Der große Verdi-Kenner Julian Budden stellte sogar infrage, ob Verdi die Pariser Fassung selber bearbeitet habe. Barnes entwirft einen Krieg und Leidenschaft vermengenden Albtraum des Grafen von Luna auf der Bühne, in dem ein Paar sich vor Filmarchivaufnahmen des Bürgerkrieges im erotischem Tanz räkelt, während der Befehlshaber in seinem Kommandozelt schlummert.
Malerische Bühne, schemenhafte Figuren
Die malerischen Bühnenbilder mit suggestiver Beleuchtung (Liam Doona, Daniele Naldi und Paolo Bonapace) stehen in Kontrast zur Personenführung, die im Schemenhaften verbleibt, so wie auch Marcus Bosch brav dirigiert, ohne Feuer oder Schwung. In der Partie des Grafen von Luna verfügt der georgische Bariton Giorgi Lomiseli über ein kraftvoll wohlklingendes Organ, dem es jedoch an farblicher Tiefe fehlt. Der das italienische Idiom beherrschende Mexikaner Eduardo Niave meistert in seinem Debüt als Manrique, wie er hier heißt, die strapaziösen Tenor-Höhen. Keseniia Nikolaieva verströmt mit der satten Tiefe ihres Mezzosoprans Unheil, der Text bleibt jedoch unverständlich und bei den Sprüngen in die höheren Lagen hapert es ein wenig. Dahingegen gelang es der Sopranistin Lydia Grindatti, mit warmem, sicher geführtem Sopran zugleich Fragilität und Willensstärke zu vermitteln.
Dominick Valdés Chenes (links) und Axelle Saint-Cirel in „The Magic Fountain“ von Frederick DeliusPádraig Grant/ WFO2025Es dauerte mehr als hundert Jahre bis Delius’ „The Magic Fountain“ 1997 in Kiel uraufgeführt wurde. Wexford bestätigt, dass es dafür gute Gründe gab. Von klanglichen Reminiszenzen an die kurze Zeit durchdrungen, als Delius eine Orangenplantage in Florida verwaltete, entsprechen die von Grieg, Wagner und Debussy geprägten, von Francesco Cilluffo feingliedrig dirigierten Klangbilder eher einem Tongedicht als einer Oper. Der ungelenk archaische Text, den Delius selbst verfasste, scheint im Kampf mit der irisierenden Musik zu stehen.
Christopher Luscombe und sein Bühnenbildner Simon Higlett setzten sich wacker über politisch-korrekte Bedenken zu kultureller Aneignung hinweg, um die Angehörigen des Indianer-Stammes, bei dem der schiffbrüchige Solano an Land geht, wie im Winnetou-Film zu kleiden. Mit einfachsten Mitteln beschwört Higlett die üppige Vegetation des Dschungels, durch den die indigene Wahata den Fremden zur legendären Quelle führt. Grandios, wie die Mezzosopranistin Axelle Saint-Cirel, die bei der Eröffnung der Pariser Olympiade die Marseillaise sang, den in Liebe umschwenkenden Hass auf die weißen Vernichter ihres Volkes beglaubigt. Neben den volltönenden Stimmen von Kamolohelo Tsotetsis Stammesoberhaupt und Meilir Jones’ Seher nimmt der Tenor Dominick Valdés Chenes als Solano eher durch Durchhaltevermögen als Strahlkraft für sich ein.
Der Kriegsheld als Frau
Händels Verkleidungsdrama „Deidamia“ über den vergeblichen Versuch des Achilles, sich als Frau auszugeben, um ihn vor seinem vorbestimmten Schicksal zu bewahren, gehört gewiss nicht zu seinen größten Opern. Die dreieinhalbstündige Koproduktion mit dem Göttinger Händelfestspielen könnte auch durchaus einige Kürzungen verkraften. Doch gibt es Momente von betörender melancholischer Schönheit, wie am Schluss, wenn sich die Sopranstimmen von Sophie Junkers Deidamia und Sarah Gilfords Nerea mit denen ihrer jeweiligen Liebhaber, der von dem agilen Countertenor Niccolò Balducci verkörperte Odysseus und Bruno de Sás wunderbar kessem Achilles, in der Aussage verweben, dass Heldentum und Liebe nicht unvereinbar seien.
Das vom Duett in ein Quartett verwandelte Ensemble ist beispielhaft für die Art, wie Petrou, mal humorvoll, mal mit Gefühl, oft unter Verwendung witziger Projektionen von Achim Friess den Dünkel, die Verletzbarkeit und die erotischen Ambiguitäten der Figuren szenisch und musikalisch beleuchtet, indem er parallelen Welten der mythischen Antike und einer zeitgenössischen Reisegruppe in den von Giorgina Germanou stimmungsvoll ausgestatteten touristischen Hotspots der griechischen Insel Skyros aufeinanderstoßen lässt, ohne dass sie sich gegenseitig wahrnähmen.
In Wexford gilt seit langem das Prinzip, dass das Programm eine Oper fürs Herz, eine für den Verstand und eine zum Vergnügen enthalten solle. „Deidamia“ trifft alle drei Kriterien auf einen Schlag. Zum 75. Jubiläum des Festivals im nächsten Jahr werden unter dem Schlagwort „The Best of Wexford“ drei Werke aus dem historischen Bestand neu aufgeführt: Pietro Mascagnis „Iris“ soll das Herz, Sergej Prokofjews „Der Spieler“ den Verstand ansprechen und Gioachino Rossinis „L’equivoco stravagante“ den Spaß besorgen.

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