Über das Ergebnis der niederländischen Wahl an diesem Mittwoch wird nach herrschender Meinung im Fernsehen entschieden. Etwa ein halbes Dutzend Mal treffen die Protagonisten dort in diesen Tagen zu Debatten aufeinander. Mal sind die Kandidaten der vier größten Parteien unter sich, mal dürfen die kleineren mitreden, schließlich sind insgesamt 15 im Parlament vertreten. Vor zwei Jahren kam es zu einer Sensation: Im Privatsender SBS6 gelang es dem Rechtspopulisten Geert Wilders, den Sozialdemokraten Frans Timmermans zu düpieren – mithilfe einer Wutbürgerin im Publikum, die sich später als Anhängerin von Wilders herausstellte. In den Tagen bis zur Wahl verdoppelte Wilders’ Freiheitspartei PVV ihre Stimmenzahl.
Entsprechend hoch waren die Erwartungen, als die großen vier am Donnerstag erneut bei SBS6 zusammentraten. Wieder ein gamechanger? Es passierte: nichts Besonderes. Die Konkurrenz gab Wilders kräftig Kontra, der sich als ausgegrenztes Opfer stilisierte und für alle Probleme wie immer nur eine Lösung empfahl: den sofortigen „Asylstopp“. Der Islamkritiker könnte Rückenwind gebrauchen, seine Partei liegt in den jüngsten Umfragen zwar noch vorn, bleibt aber deutlich unter dem Ergebnis, das die PVV Ende 2023 zur mit Abstand stärksten Kraft machte.
Damals folgte eine zähe, chaotische Regierungsbildung, die in ein Rechtsbündnis von vier Parteien mündete – unter Einschluss der PVV, doch nicht unter Wilders’ Führung, sondern mit dem parteilosen Spitzenbeamten Dick Schoof als Premier. Die Koalition war von Beginn an zerstritten und brachte so gut wie nichts auf die Reihe. Fortschritt gab es weder bei den Hunderttausenden fehlenden Wohnungen und der damit zusammenhängenden Stickstoff-Umweltkrise noch bei den explodierenden Kosten für Gesundheit und Pflege. PVV-Ministerin Marjolein Faber wiederum scheiterte mit dem Versuch, das „härteste Asylrecht aller Zeiten“ durchzusetzen. Was nach Ansicht von Beobachtern mehr an ihrer Unfähigkeit lag als, wie Wilders klagt, an mangelndem Mitwirken seitens der Koalitionspartner. Das Ende kam nach nur elf Monaten, als Wilders die Regierung platzen ließ.
Etwas Entscheidendes hat sich verändert gegenüber der Wahl 2023, man kann es Lerneffekt nennen: Mit dem unberechenbaren Wilders will diesmal keine Mitte-Partei mehr regieren, alle haben das ausgeschlossen. Wichtig ist daher, wer auf Platz zwei landet – um dann vermutlich eine jener typisch niederländischen breiten Koalitionen zu bilden. Momentan sieht es so aus, als könnten Grüne/Sozialdemokraten (GL/PvdA) den nächsten Regierungschef stellen. Allerdings ist fast die Hälfte der Wähler noch unentschlossen.
Das linksgrüne Bündnis wittert Morgenluft, mehrere große Wahldiskussionen in Amsterdam behandelten vergangene Woche die Frage, ob und wie die Linke endlich mal wieder regieren könnte. Noch bilden Grüne und Sozialdemokraten nur eine Fraktionsgemeinschaft, offiziell fusionieren wollen sie erst im kommenden Jahr. Trotz anfänglich großer Vorbehalte auf beiden Seiten – die Grünen fürchteten, bei einer Fusion das Thema Klima zu verlieren; den Sozialdemokraten waren die Ökologen zu elitär –, haben sich die Parteien relativ reibungslos aufeinander zubewegt. Immerhin ist ihr Experiment noch in keinem Land weltweit versucht worden.
Wenn andere beleidigen, argumentiert Timmermans
An der Spitze der Grün-Sozialdemokraten steht Frans Timmermans, 64, wahrlich kein neues Gesicht. Der ehemalige Außenminister und spätere EU-Kommissionsvizepräsident fremdelte zunächst mit dem neuen Job, als er 2023 von Brüssel zurück nach Den Haag ging. Inzwischen hält er im Parlament tapfer, wenn auch selten humorvoll, dagegen, wenn Wilders und andere Rechtsaußen mal wieder Migranten und „linke Eliten“ für alles Unglück der Welt verantwortlich machen. Wenn andere beleidigen, argumentiert Timmermans.
Dass er auch gerne seine Belesenheit und Intelligenz zur Schau stellt, hat seinen Ruf bekräftigt, ein Streber zu sein. Das muss einem nicht gefallen. Die Kübel von Hohn und Verachtung aber, die rechte Meinungsmacher auf allen Kanälen über „Frenske“ ausschütten, übersteigen ein erträgliches Maß bei Weitem. Noch hält er das aus, doch auf Dauer droht es ihn zu beschädigen. Als Premier könnte der Limburger den Niederlanden dank seiner politischen Erfahrung wieder etwas mehr internationale Schlagkraft geben.

:So will sich Europa verteidigungsbereit machen
Angesichts der Bedrohung durch Russland legt die EU-Kommission einen detaillierten Plan vor: Bis 2030 soll Europa in der Lage sein, sich allein gegen einen Angriff zu schützen. Aber kann das wirklich funktionieren?
Hoffnung auf den Posten kann sich auch ein Christdemokrat machen, das gab es lange nicht. Henri Bontenbal, 42, trat an die Spitze des Christdemokratischen Appells (CDA) nach einer Zeit großer Wirren. Ein Führungs- und Richtungsstreit führte zur Abspaltung einer Gruppe um Pieter Omtzigt und einem brutalen Absturz bei der letzten Wahl. Die fünf Mitglieder seiner Fraktion passten in ein Auto, scherzt Bontenbal gern. Inzwischen hat sich Omtzigt wegen Krankheit aus der Politik zurückgezogen, und seine Partei Neuer Sozialvertrag, die sich auf eine Koalition mit Wilders einließ, wird von ihren 20 Abgeordneten vermutlich keinen einzigen behalten. Die meisten NRC-Wähler scheinen zum CDA zurückkehren zu wollen.
Bontenbal präsentiert sich als „nice guy“, bittet um mehr Sachlichkeit und weniger Feindschaft im Parlament, plädiert für die Besinnung auf Werte und Normen, pocht auf „Anstand“. Für dasselbe Wort wurde der damalige CDA-Premier Jan Peter Balkenende vor 20 Jahren noch verlacht. Jetzt scheint es den Nerv vieler verdrossener Bürger zu treffen in einer Zeit, in der verbale Extremisten wie Wilders den Ton angeben – und die Konkurrenz sich oft nicht anders zu helfen weiß, als es ihm mit derselben Münze heimzuzahlen. So werfen die Politiker einander in- und außerhalb des Parlaments laufend Ungeheuerlichkeiten an den Kopf. Dieses Klima befördert, wie unter anderem die Antiterroreinheit NCTV bestätigt hat, politische Gewalt, wie bei jener rechtsextremen Demo im September in Den Haag, die zu einer Straßenschlacht mit der Polizei eskalierte.
Kaum jemand hat noch Vertrauen in der Politik – gerade einmal vier Prozent
Bontenbal verteidigte vergangene Woche allerdings das Recht konfessioneller Schulen, homosexuelle Beziehungen zu verbieten. Das verschreckt offenbar viele Wähler und treibt sie zu der schon fast abgeschriebenen Partei D66, die einen Höhenflug erlebt. Die Sozialliberalen galten als Musterbeispiel für abgehobene Progressive. Inzwischen winken ihnen mehr Stimmen als der von Dilan Yeşilgöz glücklos geführten rechtsliberalen VVD, die in Mark Rutte 13 Jahre lang den Regierungschef stellte.
D66-Chef Rob Jetten hat die Partei leicht nach rechts gerückt, er fordert, sich die niederländische Fahne wieder als Symbol aneignen und stolz auf das Land sein zu dürfen, lästert über „woke“ Regenbogen-Zebrastreifen, verwendet eine deutlich härtere Sprache in der Migrationspolitik. Bildung, Innovation und Klima sind seine Themen, ungeniert verbreitet er Optimismus, nach dem Motto: Lasst euch von Wilders nicht verrückt machen, wir sind besser.
Wo stehen die Niederlande in diesem Herbst? Eine pessimistische Sicht liegt auf der Hand. Wenn ein Politiker wie Wilders, der allein auf Destruktion setzt, so anhaltend stark, ja, dominant sein kann, wenn Regierungen nur kurze Zeit durchhalten, dann muss etwas im Argen liegen. „Zerbrochen“ sei das Land, schreibt Kustaw Bessems von der Zeitung Volkskrant, es werde schwierig für die Mitte-Parteien, es wieder zusammenzufügen. In der Ära Rutte haben diese Parteien viel Vertrauen der Bürger in die Politik zerstört, laut einer Umfrage liegt es bei vier Prozent. Kaum jemand scheint noch an die Fähigkeit der etablierten Parteien zu glauben, Lösungen für die dringendsten Probleme zu liefern.
So haben Populisten, die die Ängste der Menschen gern ins Apokalyptische vergrößern, leichtes Spiel. Ein Rezept gegen sie scheinen auch die Niederlande nicht gefunden zu haben. Eher hat sich der gesamte politische Diskurs nach rechts verschoben, nicht zuletzt in den Medien. Besonders auffällig: Die ehedem leicht links ausgerichteten Polit-Talkshows haben eindeutig die Seite gewechselt. Zuweilen ist gar die Warnung zu hören, die Demokratie sei bedroht, ihre Institutionen würden unterminiert.
Es gibt aber auch Optimisten. Wie Casper Thomas vom Wochenblatt De Groene Amsterdammer. „Ich bin über den Gipfel der Sorge hinweg“, sagt er und wundert sich dabei über sich selbst. Das Experiment mit Wilders in der Regierung sei gewagt worden – und für alle ersichtlich missglückt. „Jetzt geht es zurück in die Mitte.“ Und dort drohe nicht der oft beschworene „Einheitsbrei“. Vielmehr gebe es fundamentale Unterschiede zwischen den Parteien, bei Themen wie Ukraine, der Haltung zu Israel oder der Migration. „Eigentlich funktioniert das politische System ganz gut.“











English (US) ·