Die Lage am Morgen Wenn deutsche Beamte die innere Kettensäge entdecken
Heute geht es um die Tücken des Bürokratieabbaus, um Ausschreitungen bei Pro-Palästinenser-Demonstrationen und um das Finale beim ESC in Basel.
17.05.2025, 06.44 Uhr

Das Ende der Aktenstapel
Die Sache mit dem Bürokratieabbau könnte ganz einfach sein. Kostet nix. Kommt gut an. Kann für mehr Investitionen und Optimismus in der Wirtschaft sorgen. Gesetze, Richtlinien und andere Vorschriften zu streichen, sollte viel leichter sein, als Gesetze, Richtlinien und andere Vorgaben einzuführen. Denkt man jedenfalls.
Stimmt aber nicht.

Aktenstapel im Amt, noch frei von Staub
Foto:Sebastian Gollnow / picture alliance / dpa
Friedrich Merz muss das gerade erleben. Seine Bundesregierung hat sich dem Bürokratieabbau verschrieben, so steht es im Koalitionsvertrag. Als der Bundeskanzler aber vorschlug, die europäische Lieferkettenrichtlinie abzuschaffen, stieß er auf Widerstand – erwartbar bei seinem Vizekanzler von der SPD, erstaunlicher bei internationalen Juristen (mehr über den Brandbrief der Juristen an Europaabgeordnete und Vertretungen von EU-Ländern erfahren Sie hier). Das Thema dürfte die Koalition in dieser Legislaturperiode viel Nerven kosten.
Dass weniger Bürokratie auch mit einfachen Maßnahmen möglich ist, dass die Verwaltung vielerorts effizienter und schneller sein könnte, wenn Staatsdiener etwas mehr Freiheit hätten und eigenverantwortlicher entscheiden könnten, zeigt ein lesenswerter Report meines Kollegen David Böcking aus dem SPIEGEL-Wirtschaftsressort. Frei nach Musk und Milei schreibt David, deutsche Beamte müssten »ihre innere Kettensäge entdecken«.
Die ganze Geschichte hier: Weniger Bürokratie – halten deutsche Beamte das aus?
Die optische Dominanz des Palästinenser-Tuches
In Berlin, in München oder in Hamburg werden heute viele Kufiyas auf den Straßen zu sehen sein, in Deutschland auch als »Palästinensertuch« bekannt. In mehreren großen Städten wurden propalästinensische Demonstrationen angemeldet. Die Aufrufe lauten: »Stoppt den Gaza Genozid«. Oder: »Stoppt Deutschlands Beihilfe am Völkermord«.

Demonstration in Berlin-Kreuzberg
Foto: Stefan Frank / Middle East Images / IMAGODie Polizei ist alarmiert. Erst am Donnerstagabend hatte sich bei einer israelfeindlichen Demonstration zum Nakba-Tag in Berlin-Kreuzberg ein Vorfall ereignet, den die Berliner Gewerkschaft der Polizei als »neue Eskalationsstufe« bezeichnet, wie mein Kollege Florian Kistler berichtet. Ein Polizist sei gezielt in die Menge gezogen und getreten worden. Der Mann wird schwer verletzt, fällt in Ohnmacht, ein Defibrillator kommt zum Einsatz. Auch Andersdenkende sollen attackiert worden sein (mehr zu dem Vorfall lesen Sie hier ).
Zugleich ist die Zahl der Unterstützer Israels auf den Straßen klein geworden. In den Städten gibt es nur wenige Demonstrations-Aufrufe, leider, in denen es heißt: »Holt die Geiseln heim.« Oder: »Bekämpft den Antisemitismus.« Es gibt in Berlin auch nur noch wenige Männer, die man offen eine Kippa tragen sieht, von den Gästen der feierlichen Beisetzung von Margot Friedländer auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee in dieser Woche abgesehen. Es ist etwas ins Rutschen geraten.
Nach dem Holocaust wollte die junge Bundesrepublik der erste Partner Israels werden. Angela Merkel machte daraus später eine Staatsräson. Doch inzwischen stellt Israels Krieg in Gaza vieles infrage, auch in der deutschen Politik, wie es in der SPIEGEL-Titelstory heißt. (Lesen Sie hier mehr über Israels jüngste Offensive in Gaza.)
Hat die Bundesregierung vor allem eine Verantwortung für Israel, für die Jüdinnen und Juden dieser Welt? Oder auch dafür, dass sich Genozid und Menschenfeindlichkeit nicht wiederholen – egal wo, egal von wem?
Hier die SPIEGEL-Titelstory: Wie der Gazakrieg den deutschen Blick auf Israel verändert
Germany – zero points?
Heute Abend wird sich die europäische Welt teilen. In diejenigen, die den European Song Contest (ESC) als popkulturelles Phänomen verehren, aufmerksam die Vorauswahl verfolgt haben und sich in ihrer Begeisterung vom traditionellen »Germany – zero points« nicht schrecken lassen. Und in diejenigen, die sich immer noch nicht merken können, wie der deutsche Beitrag heißt. Menschen wie mich.

Abor & Tynna singen für Deutschland
Foto: Denis Balibouse / REUTERSGerade in diesem Jahr gibt es allerdings viele Gründe, den ESC zu schauen. In Basel steigt das große Finale des europäischen Musikwettbewerbs, der so viel mehr ist als das, nämlich die fortgesetzte Feier von queeren Lebensentwürfen, Sexpositivität oder regionalen musikalischen Identitäten. In Zeiten eines weltweiten konservativen Rollbacks wirkt er noch politischer als sonst, auch wenn das vom Veranstalter proklamierte Politikverbot weiter gilt.
Am Ende kommt es auch darauf an, welcher Beitrag den Zeitgeist trifft. Wonach steht Europa wohl der Sinn? SPIEGEL-Kulturredakteur Felix Bayer, der aus der Schweiz berichtet, erklärt die Sache so: Ist Europa melancholisch gestimmt, gewinnt Frankreich. Wenn es Eskapismus sucht, gewinnt Schweden. Und wenn es sich nicht entscheiden kann, beeindruckt vielleicht der kunstsinnige Auftritt des österreichischen Teilnehmers. »Mit einem deutschen Sieg ist nicht zu rechnen«, sagt Felix. »Abor & Tynna und das deutsche Team haben in der Inszenierung viel rausgeholt, über Social Media Sympathien gesammelt – und ihr Song ›Baller‹ ist ein Ohrwurm. Aber da passiert nun mal deutlich Spektakuläreres.«
Unser Team begleitet das ESC-Finale ab 20:30 Uhr mit einem Liveblog.
Mehr Hintergründe hier: Das war womöglich ein Sexzwinkerer zu viel
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Gewinner des Tages…
…ist das Wort »Kopfbedeckung«. Es war lange nicht mehr in der politischen Berichterstattung zu lesen. Bis in dieser Woche der Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Marcel Bauer gleich zweimal des Plenarsaales verwiesen wurde, weil er seine Baskenmütze nicht absetzen wollte. Keine Kopfbedeckungen zu tragen, sei eine »parlamentarische Gepflogenheit«, sagte eine Sprecherin des Bundestags dem SPIEGEL.

Wollmützen-Träger Bauer im Bundestag
Foto: dts Nachrichtenagentur / IMAGODass das Tragen einer Kopfbedeckung Anlass für politische Debatten sein kann, weiß man seit der Diskussion um den Hidschab – bei der es eine erstaunliche Klammer zur Baskenmütze gibt. Im Jahr 2008 entschied ein Gericht in Düsseldorf, dass auch diese unter das dortige Kopftuchverbot fällt. Der Fall: Eine Lehrerin hatte statt eines Hidschab eine Baskenmütze getragen, unter die sie ihre Haare stopfte, um die Vorschrift zu umgehen.
Der Vatikan wiederum hält es eher mit dem Kopftuch. Bei der Amtseinführung von Papst Leo XIV. dürfte das an diesem Wochenende zu beobachten sein. Das Protokoll sieht für die Damen unter den Staatsgästen bei großen Anlässen meist die Mantilla vor, einen traditionellen schwarzen Schleier. Unter den passt im Zweifel auch eine Baskenmütze.
Die jüngsten Meldungen aus der Nacht
Supreme Court blockiert Abschiebungen von Venezolanern per Kriegsgesetz: Die US-Regierung beruft sich auf ein sehr altes Gesetz, um angebliche Bandenmitglieder aus Venezuela auszuweisen und in ein Gefängnis nach El Salvador zu überstellen. Der Oberste Gerichtshof hat jetzt einen Abschiebestopp verlängert.
Ratingagentur Moody’s stuft Kreditwürdigkeit der USA herab: Die USA haben ihre Spitzennote der Ratingagentur Moody’s verloren. Ein Grund für die Entscheidung ist das Anwachsen der Staatsschulden. Das Weiße Haus reagiert mit harscher Kritik.
Bildungsministerin Prien will Schulabbrecher-Quote halbieren: In Deutschland steigt die Zahl der Kinder, die ohne Abschluss die Schule verlassen. Karin Prien möchte die Quote bis 2035 massiv senken. Die CDU-Politikerin äußerte sich auch zur Handynutzung an Grundschulen.
Heute bei SPIEGEL Extra: Revolution und Drogenrausch – Alltag unter der Militärherrschaft

DER SPIEGEL
Militärherrschaft: Bevor das Militär sich an die Macht putschte, hat unser Autor in Yangon in Myanmar gelebt. Nun reist er wieder hin – und sieht in Technoclubs und Villenvierteln Parallelgesellschaften zwischen Revolutionswillen und Hoffnungslosigkeit .
Ich wünsche Ihnen einen prächtigen Start in den Tag.
Ihre Cornelia Schmergal, Ressortleiterin Wirtschaft