Neil Young, Addison Rae, Drangsal, AJ Tracey: Abgehört - Album der Woche

vor 17 Stunden 1
Musiker Young

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Warner Music

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Neil Young & The Chrome Hearts – »Talkin to the Trees«

Muss man sich Sorgen machen? Im November wird der große kanadische Songwriter und Rockmusiker Neil Young 80 Jahre alt, aber bisher hatte ihn das Alter noch nicht sentimental gemacht – oder seinen steten produktiven Output gebremst, alles andere als das. Mit »Talkin to the Trees« veröffentlicht Young nun auf seine alten Tage sogar noch einmal ein Debüt, das erste Album mit seiner neuen Band The Chrome Hearts. Aber vieles darauf klingt wie ein beginnender Abschied. Sollte es sein letztes Album sein, Gott bewahre, dann finden sich hier viele letzte Worte, manche ungewohnt zärtlich, manche ziemlich biestig. Und wenn nicht, was man hoffen sollte, dann ist es allemal eines der besten und berührendsten Young-Alben seit längerer Zeit.

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Es beginnt mit einem seiner Familie gewidmeten Triple. In »Family Life« bekommen wir Einblick in den kreativen, oft improvisierten Songwriting-Prozess Youngs, den man sich beim Texten dieser Zeilen morgens zerzaust und schüttelreimend vorstellt: »When today has come & gone/ I might be singin my new song/ It might be short and it might be long/ But I’ll be singing my new song«. Das Lied würdigt alle seine Kinder und Enkel, von Zeke bis Ben und Amber, von Ronan bis Aliyah. Seine aktuelle Gattin, Schauspielerin Daryl Hannah, wird nicht namentlich erwähnt, aber als »best wife ever« und »best cook ever« gewürdigt. »Dark Mirage« wird dann auch musikalisch etwas dräuender und düsterer, weil es davon handelt, dass Young offenbar Streit mit Tochter Amber Jean hat: »Well I lost my little girl/ To the darkness inside«. Young singt davon, dass er gern noch den Herzenswunsch seiner verstorbenen Frau Pegi, Ambers Mutter, erfüllen möchte. Man kann sich denken, dass es um Versöhnung geht.

Country-beschwingter, aber nicht minder melancholisch wird es in »First Fire of Winter«, in dem Young vom Herbst erzählt und seiner Frau offenbar behutsam und zart die Angst vor seinem baldigen Ableben nehmen möchte. »There’s always been a lion, lurking there in the trees«, singt er über den lauernden Tod, aber sie solle sich nicht sorgen, er sei auch im Jenseits immer für sie da. Die Musik dazu ist eine Art Selbstzitat, Harmonie und Melodie erinnert an Youngs große Ballade »Helpless«.

Bekannt kommen einem auch die Harmonien von »Silver Eagle« vor: Die Hommage an Youngs rumpeligen, wie ein Wohnzimmer eingerichteten Tourbus und Wohnmobil gleichen Namens zitiert unverhohlen Woody Guthries Protesthymne »This Land Is Your Land«, was sich gerade in politisch unruhigen Zeiten wieder neuer Beliebtheit und Aktualität erfreut, nicht nur dank des Bob-Dylan-Films »A Complete Unknown« , sondern auch, weil Bruce Springsteen es am Ende seiner politisierten Konzerte  vom Band spielen lässt.

Trumps Amerika kommt beim ewig streitbaren linksliberalen (und Autofan) Young natürlich auch vor, aber nur indirekt, in »Let’s Roll Again«. Der Song, eine Art Sequel zu Youngs kontroverser 9/11-Meditation »Let’s Roll«, ist eine Aufforderung an die US-Autoindustrie, endlich sauberere, umweltschonendere Wagen zu bauen: »C’mon Ford, C’mon GM/ C’mon Chrysler, let’s roll again/ Build somethin’ useful, people need/ Build us a safe way for us to be«. Wenn du ein Demokrat bist, singt Young in den Abzählversen des stetig dahinrumpelnden Songs, dann fahr, was du willst, schon okay. Aber wenn du ein Faschist bist… auweia: »If yer a fascist / Then get a Tesla/ If it’s electric, it doesn’t matter«. Wenn du einen Tesla fährst, ist es egal, ob er ökobewusst ist: Mist bleibt Mist.

»Big Change is comin’«, dräut Young danach im lautesten und unnachgiebigsten Song des Albums, einem Donnerwetter aus Gitarrenriffs. Hier muss man ein paar Worte über die Chrome Wheels verlieren, die aus Orgel-Veteran und Koryphäe Spooner Oldham, Anthony LoGerfo und Corey McCormick von Youngs Teilzeit-Band Promise of The Real sowie Gitarrist Micah Nelson bestehen. Etwas jünger als die zuletzt hüftsteif gewordenen Crazy Horse, bringen sie eine neue musikalische Dynamik in Youngs Sound. Eine willkommene Veränderung. Worin der »Big Change« in der Gesellschaft allerdings besteht, darüber schweigt sich Young aus: »It might be bad and it might be great«.

Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass sich Young zurzeit lieber mit Privatem, als mit Politischem beschäftigen will. Im Titelstück steht er wie ein Rentner an der Supermarktkasse (natürlich ein Bioladen) und denkt zu wiederum sentimentaler Country-Musik über Bob Dylan nach, und wie er es ihm offenbar nie geglückt ist, mit ihm zusammenzukommen: »Thinkin’ ’bout Bob/ All the songs he was singin/ All that time/ Wantin’ just to say hello«. Einen Song später wird jeder Anflug von Nostalgie schon wieder in einem nach vorn drängelndem Blues bezwungen: »Movin ahead/ Don’t wanna look back/ If it brings you down/ Makes you feel bad/ Or kicks you around«, singt Young grimmig. Oldham Orgel piesackt ihn wie eine Mistgabel, treibt ihn unerbittlich über die Stöcke und Steine der beschwerlichen Rock-n-Roll-Langstrecke.

Aber auch die frische Band kann nicht verhindern, dass dieses Album auf einer sentimentalen Note endet. Das überraschende »Bottle of Love«, das davon handelt, die Tränen des Lebens in einer Flasche aufzufangen, ist ein so rührender, zärtlicher und entwaffnender Sesamstraßen-Jazz, wie man ihn eher vom – seufz – jüngst verstorbenen Feinschleifer Brian Wilson  kannte, als vom Holzhacker Young. In »Thankful«, wiederum eine Selbsthommage (man höre heraus: »Harvest Moon«), bedankt sich Young dann schließlich für alle seinen süßen und schweren Zeiten. Tief einatmen: Vielleicht sind diese Gespräche mit den Bäumen nur flüchtige, schnell rausgehauene Tagebuchnotizen, um die Zeit bis zum nächsten Album nicht zu lang werden zu lassen. Als wäre das jemals ein Problem gewesen. (8.5/10)

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Kurz abgehört:

Addison Rae – »Addison«

Dass hier nach einer neuen Pop-Ausdrucksform gesucht wird, scheint gleich im ersten Track klar: »Love New York love New York love New York«, singt Addison Rae so schnell, dass die Worte miteinander verschmelzen und wie eine Alien-Sprache klingen. Ihren Namen verkürzte die populäre TikTok-Influencerin für ihr Debüt-Album zu Addison, das soll man lesen wie: Madonna, deren Musik, vor allem die »Ray of Light«-Phase, aber auch »Justify My Love«, hier dann auch diverse Male zitiert wird. Klingt anmaßend, doch der 24-Jährigen aus Louisiana gelingt mithilfe der beiden auch produzierenden Songwriterinnen Elvira Anderfjärd und Luka Kloser ein sinnlicher, lasziv sextrunkener Popflow, der sich mit selbstsicherer Elektropop-Intimität gegen die lauten Brat- oder Empowerment-Posen der jüngeren Zeit stellt. Man stellt sich Rae mit »Headphones On«, so heißt ein Track, auf dem Rücksitz eines New Yorker Taxis vor, wie sie von heißen Dates (»Diet Pepsi«), zu melancholischer Clubmusik über die Schattenseiten des Influencer-Ruhms nachdenkt (»Fame Is A Gun«) oder einfach nur in der Hitze des Sommers schwelgt und fantasiert (»Summer Forever«, »Aquamarine«). »Wanna roll one with Lana, get high with Gaga«, singt sie in ihrem »Material Girl«-Manifest, das hier »Money Is Everything« heißt: Can't a girl have fun-fun-fun, fragt sie darin. Mit so einem überraschend originellen Debüt? Auf jeden Fall. (8.0/10)

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Drangsal – »Aus keiner meiner Brücken die in Asche liegen ist je ein Phönix emporgestiegen«

Das mit der »Exit Strategy« hat nicht so gut geklappt. So hieß 2021 das bisher letzte Album des in Berlin lebenden Musikers, Schriftstellers und Szene-Maskottchens Max Gruber alias Drangsal. Damals schien er endlich einen Sound für sich entdeckt zu haben, einen chartstauglichen Indie-Pop, irgendwo zwischen Maximo Park und Mark Forster. Das mit den Charts klappte: »Exit Strategy« landete auf Platz sechs, aber Gruber suchte schon wieder nach einem Exit aus der scheinbar unvermeidlichen Popstarwerdung. Statt weiter Richtung Ruhm zu streben, suchte Gruber neue Umwege. Er veröffentlichte sein autobiografisches Literaturdebüt »Doch«, gründete mit Hans-A-Plast-Veteranin Annette Benjamin Die Benjamins und mit Alternative-Songwriterin Stella Sommer Die Mausis.

Aber was war mit Drangsal? Der rumorte weiter in Grubers Seele – und ist jetzt wieder da. Er kehrt zurück zu den Indierock-Wurzeln seines Debüts »Harieschaim« von 2016, das eine Hommage an Grubers Herkunftsort in der Pfalz war, allerdings gereifter und mit einer Band, die endlich den richtigen Klangraum für all die cleveren kleinen Nuancen und Reverenzen des 31-jährigen Popkenners öffnet. Lukas Korn, Gitarrist, Bassist und Produzent, und der klassisch ausgebildete Jazzer Marvin Holley lösen es virtuos, wenn Gruber in »Bergab« den harten Metal von Iron Maidens »The Trooper« zitieren will. Statt Synthie-Pop dominieren nun wieder akustische und elektrische Gitarren. Durch feinere Songs wie »Pervert The Source« geistern allerdings auch elegant groovende Vorbilder wie ABC aus den frühen Achtzigerjahren. Orgel, Klavier, Violine und Cello, Querflöte und Saxofon grundieren den letztlich immer noch nervösen, forschenden Pop-Entwurf eines Musikers, der sein Heil in der Musik sucht und nie findet. Aber so schön und vielfältig wie heute klang das noch nie. (7.9/10)

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AJ Tracey – »Don’t Die Before You’re Dead«

Ché Wolton Grant, wie AJ Tracey eigentlich heißt, bleibt sich auf seinem dritten Album treu. »Live and direct« war das Motto des DJs und Rappers, das er 2019 auch in die Lyrics seines größten Hits »Ladbroke Grove« einbaute. Anlässlich der Veröffentlichung von »Don’t Die Before You’re Dead« lieferte der 31-Jährige nun CDs und Vinyl live und direkt in der Uniform des Lieferdienstes Deliveroo aus, zumindest kurz, für einen PR-Termin. Ordern kann man das Album in London aber tatsächlich wie eine frische Pizza über die App, es soll dann binnen 20 Minuten an der Haustür sein. Der Charts-Superstar aus West-London gibt sich also volksnah – und in seinen neuen Tracks auch ungewohnt gereift und privat. In »3rd Time Lucky« erzählt er rührend über die Brustkrebs-Erkrankung seiner Mutter, bei der der Sohn eines alsbald abwesenden Musikers aus Trinidad aufwuchs.

Vier Jahre sind seit dem letzten Album des populären Rappers vergangen, eine Zeit, in der er sich in Projekten gegen Armut und für Jugendliche aus prekären Verhältnissen engagierte und seinen muslimischen Glauben reflektierte. In »Friday Prayer« (mit Kollegen Headie One und Aitch) kommt seine neue Frömmigkeit zum Ausdruck. Das Album sei aber grundsätzlich eine Liebeserklärung an seine Britishness, erklärte er. Nostalgie ist Teil dieser musikalischen DNA, wenn er in Tracks wie »Paid In Full« oder »Jeff Hardy« UK-Garage-, Grime und 2Step-Tugenden der Nuller- und Zehnerjahre pflegt. Den Superhit für das UK-Dance-Revival hat er auch parat: die in Erinnerungen an Teenie-Dating schwelgende Ballade »Crush« mit grandiosem Gastgesang von Englands R&B-Prinzessin Jorja Smith. (7.5/10)

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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)

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