Es muss im Jahr 1985 gewesen sein, als das Inbild des Respekt heischenden Professors mich als gerade eingestellte Hilfskraft zu sich ins Büro rief. Pfeife rauchend fragte Lutz Niethammer den verblüfften Studenten, ob es einen bestimmten Grund gebe, dass ich ihn siezen würde. Die Episode beleuchtet mehrerlei: Nicht immer war sich der Historiker seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst. Seine wissenschaftliche Persona war unorthodox und auch für Fachkollegen nicht immer leicht einzuordnen. Der familiäre Ton, den er um sich herum anschlug, verweist zugleich auf seine Arbeitsweise. Die erfüllte sich in freundschaftlich aufgestellten Teams, die um originelle Zugriffe auf die Zeitgeschichte herum gebildet wurden.
Niethammer, 1939 in Stuttgart geboren, war einer der wenigen echten Intellektuellen seiner Disziplin. Schon als Schüler hatte er für Zeitschriften und den Rundfunk gearbeitet. Ein erstes Buch war 1969 dem verstörenden Phänomen der NPD gewidmet. Beim Studium in Heidelberg und andernorts bildeten sich Bekanntschaften zu unterschiedlichen Personen wie Reinhart Koselleck, Jürgen Habermas oder Bernhard Vogel. Frisch promoviert, wurde er Assistent von Hans Mommsen in Bochum. „Die Mitläuferfabrik“ war vom Doktorvater Werner Conze, auch aus biographischen Gründen, nur mit spitzen Fingern gewürdigt worden. Als Studie über die Praxis der Entnazifizierung wurde sie jedoch zum zeitgeschichtlichen Klassiker. Und sie brachte Niethammer im Alter von 33 Jahren eine Professur an der neu gegründeten Gesamthochschule Essen ein.
Seine Projektkarriere, die ein halbes Jahrhundert andauerte, ist überaus eindrucksvoll. Niethammer gab der Zeitgeschichte zahlreiche Impulse, am bekanntesten wurde seine führende Rolle beim US-Import der Oral History. Die Methode war nicht unumstritten. Die Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews entwickelter er gleichwohl zur Meisterschaft, so in einem großen Forschungsprojekt zur Erinnerungsgeschichte im Ruhrgebiet. Neben Alf Lüdtke wurde er zu einem der akademischen Verteidiger der Alltagsgeschichte „von unten“. Im Gegenzug unternahm er anschließend intellektuellengeschichtliche Ausflüge in das „Posthistoire“ und die „kollektive Identität“.
Mit Honeckers Sondergenehmigung
Niethammers Schreibstil war stark verdichtet, seinen geistigen Horizonten zu folgen war dennoch ein Vergnügen. Nach einem Aufenthalt im Wissenschaftskolleg wurde er 1988 damit beauftragt, in Essen das Kulturwissenschaftliche Institut zu gründen. Seine Netzwerke in die Politik hatten es Dorothee Wierling, Alexander von Plato und ihm ermöglicht, mit einer Sondergenehmigung Erich Honeckers noch vor dem Ende der DDR auch dort Interviews zu führen. Sie sind eine unwiederholbare Quelle für das Bewusstsein der Vorwendezeit.
1993 wurde Niethammer von der Fernuniversität Hagen nach Jena berufen. Kaum einer der „Westimporte“ in die neuen Bundesländer war auf diese Aufgabe besser vorbereitet, kaum einer interessierter und zugleich integrativer als er. Von Jena aus hat er erneut prägende Anstöße gegeben, etwa zur veränderten Interpretation des Gedenkortes Buchenwald, zur Geschichte der „roten Kapos“ wie der Sowjetischen Speziallager oder zum Einsatz von Medikamenten in der DDR. Im Auftrag des Kanzleramts half er 1999 dabei, eine späte Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter zu erwirken.
Niethammer hinterlässt ein weitgespanntes und theoretisch anspruchsvolles Oeuvre. Mit ihm, der am 29. Juli verstarb, geht ein Pionier der Zeitgeschichte von uns, ein leidenschaftlicher Berater und selbstkritischer Geist, ein ungemein kluger akademischer Lehrer und ein Meister seines Fachs.