Die Bankreihen für die Abgeordneten im britischen Unterhaus sind gegenüberliegend angeordnet, wie Fantribünen in einem etwas zu kleinen und deutlich zu alten Stadion. Es gibt je fünf Reihen auf der linken und der rechten Seite – alle 650 Parlamentarier gleichzeitig haben hier keinen Platz. Wenn man von der Galerie hinunterblickt, bekommt man einen guten Eindruck von den Machtverhältnissen: Die mit einer gewaltigen Mehrheit regierende Labour-Partei füllt alle Reihen auf der einen Seite. Auf der anderen sitzen die Abgeordneten der Opposition, zersplittert in Grüppchen. Darunter die fünf Abgeordneten von Reform UK, vier Männer und neuerdings auch eine Frau.
Bei den „Prime Minister’s Questions“ jeden Mittwoch nimmt das Reform-Grüppchen meist in Reihe vier Platz, auch diese Woche ist das so. Die komplette Parlamentsfraktion der Partei, die nach dem Dafürhalten sämtlicher britischer Medien und vieler in der Labour-Partei eine ernste Bedrohung für Premierminister Keir Starmer darstellt, sie füllt im kleinen, alten Unterhaus-Stadion nicht einmal eine halbe Bankreihe.
Der für seine Verhältnisse an diesem Mittwoch recht aufgeregt redende und gestikulierende Starmer lässt keinen Zweifel daran, wie er die Reihen gegenüber einschätzt. Die Tories und ihre Chefin Kemi Badenoch seien, sagt Starmer, „eine einst stolze Partei auf dem Weg in die völlige Vergessenheit“, ja, eine „dead party walking“. Dazwischen dreht sich der Premierminister immer wieder zu Nigel Farage, dem Chef von Reform UK, in Reihe vier. „Shame on him“, ruft er ihm einmal zu, es geht dabei um einen Kommentar von Farage zur Autoindustrie.
Starmer möchte verhindern, dass Großbritannien „eine Insel von Fremden“ wird
Farage hat an diesem Mittwoch auch eine Frage zugesprochen bekommen. Er will wissen, ob Starmer den nationalen Notstand im Ärmelkanal ausrufe, wegen der Flüchtlinge, die in Schlauchbooten herüberkommen; 12 000 waren es seit Januar, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 18 500. Wichtiger noch als die bewusst übertriebene Frage ist der Satz, mit dem Farage sie einleitet: Es freue ihn, sagt der 61-Jährige genüsslich grinsend, dass Labour von Reform UK, also seiner Partei, gelernt habe.
Er spielt damit auf die Pressekonferenz an, die Keir Starmer am Montag gegeben hat, und die seitdem wenn nicht das Land, dann zumindest die Labour-Partei beschäftigt. Starmer und seine Innenministerin Yvette Cooper stellten am Montag ein neues, 82 Seiten starkes „White Paper“ vor, das eine tiefgreifende Reform der Migrationspolitik darlegen soll. Starmer sagte, die Tories hätten „eine Politik der offenen Tür“ verfolgt, und mit diesem „Laborexperiment“ sei nun Schluss. Andernfalls laufe dieses Land Gefahr, „eine Insel von Fremden“ zu werden. Der Labour-Premierminister sagte anfangs zwar auch, er feiere die Diversität im Land, aber die meiste Zeit klang er ganz und gar nicht wie ein Labour-Premierminister.
Mehrere Politiker seiner Partei kritisieren Starmer seitdem öffentlich, etwa der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan. Beim Schlagwort „island of strangers“ fühlten sich manche gar an eine infame Rede des konservativen Abgeordneten Enoch Powell in den späten Sechzigern erinnert. Die von der Partei vor Monaten wegen eines inhaltlichen Streits suspendierte Zarah Sultana postete auf ihren Social-Media-Kanälen: „Shame on you, Keir Starmer.“
Die Anforderungen für Fachkräfte sollen angehoben, die Sprachtests schwieriger werden
Starmer verteidigt sich am Mittwoch im Unterhaus, er wolle „ein Land führen, in dem wir gemeinsam in die Zukunft gehen, als Nachbarn und Gemeinschaften, nicht als Fremde“. Der Kontrollverlust über die Zuwanderung aber gefährde das, und das wolle er nun ändern, mit „Kontrolle und Fairness“.
Was das konkret heißen soll, steht im „White Paper“: Wenn es nach Starmer und Cooper geht, sollen künftig zum Beispiel keine ausländischen Pflegekräfte mehr mit Visa ausgestattet werden. Die Anforderungen für Fachkräfte und Studenten sollen angehoben werden, die Sprachtests schwieriger werden, auch Familienangehörige sollen künftig profunde Englischkenntnisse nachweisen. Und wer nach Ablauf seines Visums dauerhaft im Land bleiben will, soll dafür künftig mindestens zehn Jahre hier verbracht haben statt bisher fünf. Dauerhaft in Großbritannien zu leben, sei „ein Privileg, kein Recht“, sagt Starmer immer wieder. Auch sein Sprecher wiederholt diesen Satz, wann immer sich die Gelegenheit bietet.
Laut aktuellen, von der Universität Oxford ausgewerteten OECD-Daten sind 15 Prozent der Einwohner im Königreich im Ausland geboren, in Deutschland sind es 18 Prozent. Damit liegt das Land im europäischen Mittelfeld. Die Netto-Migration liegt in etwa auf dem gleichen Level wie in anderen vergleichbaren Ländern.
Nicht wenige in der Labour-Partei halten Starmers Sprache für „unnötig bösartig“
In der Labour-Partei ist die gängige Meinung, dass die Regierung zwar grundsätzlich richtig handle, wenn sie versuche, die Oberhand über das gern von den Rechtsparteien besetzte Thema Migration zu gewinnen. Die Sprache, die dazu verwendet wird, bezeichnen aber einige offen als „falsch“ oder gar „unnötig bösartig“. Die Sprache der Rechten zu kopieren halten viele für gefährlich. Es ist schließlich bekannt, dass die Menschen am Ende meist lieber das Original wählen.
Auch wenn in einer Yougov-Blitzumfrage nach der Pressekonferenz am Montag immerhin 41 Prozent Inhalt und Sprache befürworteten, bleibt am Ende dieser Woche die Frage, ob der britische Mitte-links-Premierminister in der Migrationsdebatte den richtigen Ton trifft.
Starmers Auftritt in Albanien am Donnerstag ändert das vermutlich nicht. Bei seinem ersten Besuch bei dem albanischen Premier Edi Rama geht es auch um Migration. Starmer will overseas return hubs aufbauen, das heißt Zentren in anderen Ländern, in die Asylbewerber gebracht werden, deren Antrag abgelehnt wurde. Wo diese Zentren entstehen sollen, will Starmer bislang nicht sagen. Die BBC berichtet, vor allem in Staaten am westlichen Balkan, darunter auch Albanien.
Starmers Rhetorik ist am Donnerstag weniger aggressiv, aber er wiederholt dann einen Satz, den er schon am Montag und am Mittwoch gesagt hatte: „Take back control of our borders.“ Es gehe darum, die Kontrolle über die Grenzen zurückzugewinnen. Der Satz ist ein Slogan, den viele Briten gut kennen. Er wurde während der Zeit des Brexit-Referendums dauernd benutzt. Nur nicht von Keir Starmer und seiner Partei.