Michael Stolleis: Kein Mitläufer des Zeitgeists

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Michael Stolleis, der 2021 verstorbene langjährige Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, zählte zu den angesehensten und produktivsten deutschen Historikern der letzten Jahrzehnte. Das ist deshalb bemerkenswert, weil er seiner Ausbildung und professionellen Prägung nach nicht Historiker, sondern Jurist war. Unter seinen mehr als 550 Schriften finden sich auch Veröffentlichungen zum Verfassungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Kirchenrecht.

Trotzdem hat der Autor der monumentalen vierbändigen „Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland“ auch und gerade unter Historikern große Anerkennung erfahren. Stolleis hat „eine Art Persönlichkeitsspaltung“ diagnostiziert, wenn man wie er methodisch sich als Historiker verstehe, gleichzeitig aber in Rechtsfakultäten und Juristenausbildung eingebunden sei. Der seinem Werk und Wirken gewidmete Sammelband bildet diese Persönlichkeitsspaltung ab, enthält er doch Beiträge sowohl von Historikern als auch von Juristen, darunter nicht wenige Schüler und Weggefährten.

 „Recht, Staat und Geschichte bei Michael Stolleis“.Hrsgg. von Walter Pauly und Martin Otto: „Recht, Staat und Geschichte bei Michael Stolleis“.Nomos

Auf die sachkundige, an der Vorliebe ihres akademischen Lehrers für das biographische Detail geschulten Einführung durch Martin Otto und Walter Pauly folgen Studien einerseits zu den von Stolleis untersuchten Epochen (frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert, Weimarer Republik, NS- und DDR-Diktatur), andererseits zu Sach- und Spezialthemen, die andere Facetten seines Schaffens und Könnens in den Mittelpunkt stellen. Letztere gewähren Einblicke in die Denkräume des Juristen Stolleis, namentlich des engagierten Sozial- und Kirchenrechtlers, sowie in seine Tätigkeit als (nicht zuletzt: F.A.Z.-)Rezensent und seine Positionierung als öffentlicher Intellektueller.

Alle Autoren sind dem durch den Band Geehrten erkennbar wohlgesonnen und darauf bedacht, dessen Leistungen und Vorzüge herauszustellen. Trotzdem handelt es sich zum Glück um keine hagiographische Unternehmung, die Unzulänglichkeiten und Schwachstellen im Werk von Michael Stolleis ausblendet. Das wäre auch kaum in seinem Sinne gewesen. So weist Ulrich Muhlack darauf hin, dass Stolleis zwar zutreffend den subjektiven Faktor herausarbeite, der jegliche Geschichtsschreibung bestimme, dann aber auf dem halben Wege stehen bleibe, wenn er die Vergangenheit als etwas beschreibe, das „wie hinter einer Milchglasscheibe“ verborgen sei. Offenkundig habe er nie ganz die (irrige) Vorstellung aufgegeben, dass dem Historiker ein objektiv vorhandener, wenngleich nur in Umrissen erkennbarer Untersuchungsgegenstand vorgegeben sei.

Auch Inkonsequenzen oder zumindest Lücken in der Darstellung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen kommen zur Sprache. Stolleis habe, wie Achim Seifert bemerkt, zu Recht hervorgehoben, dass sich im Übergang vom liberalen Staat zum Interventionsstaat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Struktur staatlicher Willensbildung verändert und der Einfluss von Interessenverbänden auf Gesetze und politische Entscheidungen merklich zugenommen habe. Ein anderer Aspekt des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft bleibe hingegen unterbelichtet: dass nämlich der Interventionsstaat nur begrenzt interventionsfähig gewesen sei und er daher im Sinne einer „regulierten Selbstregulierung“ neue Institutionen der Selbstverwaltung gefördert habe.

Ein unbequemes und doch unvermeidbares Thema ist der Umgang des Historikers, zumal des „Zeithistorikers“, mit der eigenen politischen und weltanschaulichen Überzeugung. Hans-Christof Kraus macht darauf aufmerksam, dass Stolleis konservative Vertreter des Staatsrechts in der Regel weitaus kritischer bewerte als Aufklärer und Liberale. Zu den „generationstypischen Vorurteilen“ gehöre ferner Stolleis’ offenkundige Aversion gegen den Nationalstaat.

Mag sein. Und doch: Stolleis deshalb als Mitläufer eines 1968 plötzlich vom Himmel gefallenen linksliberalen Mainstreams zu qualifizieren, wäre grundfalsch und würde die Widerstände verkennen, mit denen er sich lange Zeit vonseiten der noch durch die NS-Zeit geprägten älteren Generation der Staatsrechtslehrer konfrontiert sah. Als die Verstrickungen von Theodor Maunz, damals immerhin Namensgeber eines führenden Grundgesetzkommentars, im bundesdeutschen rechtsradikalen Milieu ans Licht kamen und Stolleis in dieser Zeitung eine wütende Abrechnung veröffentlichte, flogen ihm – wohlgemerkt 1993 – in seiner Zunft keineswegs die Herzen zu. Auch dazu, zu den Reaktionen auf Stolleis’ Intervention im „Fall Maunz“, findet sich ein Beitrag (von Frieder Günther) in diesem informativen Band.

Hrsgg. von Walter Pauly und Martin Otto: „Recht, Staat und Geschichte bei Michael Stolleis“. Wissenschafts­geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Nomos Verlag, Baden-Baden 2025. 403 S., geb., 119,– €.

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