Wer als Musiker nur etwas von Musik versteht, hat auch von ihr nichts verstanden - lautet ein Bonmot von Hanns Eisler, das Alfred Brendel liebte. Das Leben eines berühmten, in der ganzen Welt beliebten Musikers besteht ja nicht nur aus harter Arbeit des Übens, Verstehens, noch einmal Übens, sondern aus (zum Teil abenteuerlichen) Reisen, Hotelaufenthalten, schlaflosen Nächten, Liebeskummer, Kindergeschrei, das sich auch nicht durch richtige Fußarbeit oder sensibelste Fingertechnik aus der Welt schaffen lässt. Hinzu kommen alarmierende Zeitungen und andere Zumutungen, von schlecht oder sogar falsch gestimmten Flügeln gar nicht zu reden. Ist es dem Musiker im Namen von Beethoven, Schubert, Mozart oder Liszt egal, wer das Land regiert, in dem er spielt?
Der Himmel soll langweilig sein
Alfred Brendel ist oft und gerne in München aufgetreten, hier habe ich ihn – durch Vermittlung von Reni Brendel, seiner damaligen Frau, und Peter Hamm und dessen Frau Marianne Koch in den späten siebziger Jahren kennen und lieben gelernt. Wahrscheinlich habe ich unter seinen Freunden am meisten von ihm profitiert, weil ich zwar ein Liebhaber, aber kein besonders guter Kenner von Musik bin. Ich konnte ihn alles fragen und erhielt immer Antwort. Als ich einmal zu einem seiner Geburtstage schrieb, mir würde es gefallen, einst mit einer seiner Einspielungen von Schuberts Impromptus in den Himmel zu fahren, kam sofort seine Erwiderung: Ich solle es mir doch noch einmal überlegen, nach seinen Informationen sei der Himmel zu langweilig für die Ewigkeit; die Hölle fand er interessanter. Alfred, der an keiner Kirche vorbeigehen konnte, ohne wenigstens einen Blick hineinzuwerfen, war ein solider Agnostiker. Aber er kannte alle Barockkirchen Europas und die meisten romanischen dazu; und natürlich sah man ihn in allen großen Museen, die am Wege lagen. Zuletzt haben wir mit ihm die sensationelle Donatello-Ausstellung in Berlin angeschaut, da saß Alfred schon im Rollstuhl, den seine letzte Lebensgefährtin, die umsichtige, kluge Maria Majno aus Mailand, geduldig durch die abgedunkelten Räume schob.

Aber er war auch ein großer Filmfan, seit seine Eltern auf der kroatischen Insel Krk ein Kino betrieben und er dort als Kind die großen Schmachtfetzen der Filmgeschichte zu sehen bekam, deren schrecklichen Inhalt er bis ins hohe Alter gestenreich und sehr komisch erzählen konnte. Einmal wollte er an einem eiskalten Januartag in München unbedingt einen Film von Kaurismäki sehen, den es nur in einem noch eiseskälteren Vorstadtkino gab. Alfred, Ariane und ich waren die einzigen Zuschauer. Weil es so erbärmlich zog, mussten wir die Beine über die Vordersitze legen, aber Alfred, der am nächsten Tag spielen musste, blieb bis zum Abspann, er wollte keine Minute dieser herzerwärmenden Traurigkeit verpassen.
Alfred war ein generöser Mensch. Man musste ihm mit dem Entzug von Freundschaft drohen, um ihn wenigstens einmal im Jahr zum Kaffee einladen zu dürfen. Die Hauptspeisen gingen immer auf ihn. Aber als gut trainierter Mitteleuropäer war er natürlich auch ein Spezialist von Nachspeisen, die er mit Hingabe löffelte und nachträglich analysierte.
Die Ferien verbrachte er gerne im Luberon in Frankreich. Als wir ihn dort einmal besuchten, hatte er sich in einem alten Ziegenstall eingerichtet, um in Ruhe arbeiten zu können. Wunderbar, rief ich, ein lebenslanger Freund der Ziege, einen besseren Ort kann ich mir zur Kontemplation gar nicht vorstellen! Ja, sagte Alfred, aber ich habe doch berechtigte Angst, dass am Ende der Mozart nach Ziege riecht.
Das letzte Buch wurde 2025 fertig
Sein schönes, dunkles Haus in London, am Well Walk im hügeligen Hampstead, konnte man nur über eine steile Treppe erreichen – ein Rätsel, wie Maria den alten, von der Krankheit gekrümmten Alfred dort hinaufgeschafft hat. Es war voller Bilder und Bücher. Im Esszimmer hing ein großes Gemälde von Maria Lassnig, nebenan, in seinem Studio, wo die Flügel freundlich vor sich hin brüteten, hingen Bilder von Kurt Neumann und Zeichnungen von Oskar Pastior. Als im vergangenen Winter Martin Meyer aus Zürich (der viel von Musik versteht und das schöne Gesprächsbuch mit Alfred verwirklicht hat) und ich ihn dort besuchten, um sein letztes Buch „Naivität und Ironie“ (Wallstein, 2025) vorzubereiten, fielen mir die Abende wieder ein, die ich dort verbringen durfte, mit den Dichtern und Denkern aus London, von Stephen Spender bis zu Isaiah Berlin, aber auch mit den drei Kindern, von denen der Junge, Adrian, ein hervorragender Cellist (und Fußballexperte) geworden ist.
Einmal ging ich frühmorgens auf Zehenspitzen aus dem Gästezimmer in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen, als ich, ganz unvorbereitet, Joseph Brodsky antraf, der von Alfred und Reni die Erlaubnis hatte, dort zu arbeiten, weil es in seiner Unterkunft keinen Platz dafür gab. Er war froh, mich (durch die dicken Rauchschwaden hindurch, die der Kettenraucher Brodsky um sich verbreitete) zu sehen, weil er an seinem Essay über Rilke arbeitete und nur wenig Deutsch verstand. „Alfred is not so fond of angels, so I better ask you“, rief er mir fröhlich zu. Mit tränenden Augen saßen wir über einer Zeile der Elegien, als die Tür aufging und Alfred erschien – und fast nach hinten umkippte! Alfred konnte Zigarettenrauch nicht ausstehen, und schon gar nicht in seiner Küche. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man bei dieser Rauchentwicklung etwas Gescheites über Rilke schreiben kann“,war später sein dünnlippiger Kommentar. Im Hanser Verlag habe ich ja beide verlegt, Brendel und Brodsky.
Wo Alfred war, versammelten sich Autoren. Ob in New York (Susan Sontag, Charles Simic), Graz (Alfred Kolleritsch), Paris (Milan Kundera) oder Mailand (Roberto Calasso), er war durch seine Intellektualität immer ein Magnet für Schreiber. Es wäre eine schöne Aufgabe, einmal die verborgenen Spuren nachzuzeichnen, die dieser große Pianist und großartige Schriftsteller in der Weltliteratur hinterlassen hat.
Jetzt aber müssen wir erst einmal trauern.