Seit vergangenem Freitag ist Israel im offenen Krieg mit Iran. Wo erreiche ich Sie?
Im Moment sind mein Mann und ich in meiner Wohnung im Zentrum von Tel Aviv. Zwei Tage zuvor schlug nur wenige Hundert Meter entfernt eine Rakete ein. Das Gebäude stand in Flammen. Wenn der Alarm losgeht, flüchten wir in den Schutzraum. Der Krieg ist ein Zustand permanenter Ungewissheit. Ich weiß nie, was in den nächsten Minuten passiert. Wir sind gefangen in Angst. Die Frage nach unserem Überleben ist keine abstrakte mehr, wie wenn man einen Krieg am Bildschirm verfolgt. Diese ständige Gefahr macht uns nervös. Mein Mann und ich streiten, weil jeder von uns einen Ausweg aus der Situation sucht. Wir verlieren alles: unsere Sicherheit, unsere Heimat, unsere Freunde. Der Sohn meiner Schwägerin ist in der israelischen Armee – das macht mich wahnsinnig. Denn das ist nicht mehr die Armee Israels, sondern Netanjahus Armee.
Auch in Tel Aviv gab es zivile Opfer durch Raketeneinschläge in Wohngebieten. Wie oft geht derzeit der Luftalarm?
Er geht vor allem nachts. Es ist nicht so, dass er alle paar Minuten tagsüber ertönt, aber er nimmt uns die Kontrolle über unser Leben – über unsere Pläne, sogar über unsere Telefonate. Diese ständige Gefahr verändert das Bewusstsein. In der letzten Nacht im Schutzraum habe ich kaum zwei Stunden geschlafen. Uns fehlt es nicht an Annehmlichkeiten – wir haben Essen, schauen Netflix, können das Badezimmer benutzen, ich kann Parfüm auflegen – und doch: Alles verkümmert im Krieg. Beziehungen, Leidenschaften, selbst der Wille, morgens die Augen zu öffnen. Wenn ich nach zwei Stunden Schlaf erwache, weiß ich sofort: Draußen wartet nur das Desaster. Es ist wie ein Tsunami, der alles wegspült, woran wir glauben, hoffen, was wir lieben. Und man weiß nie, ob man die nächste Sirene überlebt.
Sie versuchen, Israel zu verlassen?
Unsere Kinder sind schon nach dem 7. Oktober 2023 aus Israel weggezogen – mein Sohn lebt in Deutschland, meine Tochter in den USA. Jeden Morgen ruft sie mich aus Washington D.C. an, um zu hören, ob ich die Nacht im Schutzraum überlebt habe. Wir selbst warten jetzt auf ein Boot, um auf dem Seeweg zu flüchten. Linienflüge nehmen Israelis kaum noch mit, sie holen vor allem Touristen raus. Wir stehen auf einer Liste für ein Boot, müssen warten, bis wir an der Reihe sind, und hoffen, dass wir dann sicher zum Hafen kommen. Ich bin privilegiert: Ich habe neben dem israelischen auch einen österreichischen Pass und das Geld, um das Land zu verlassen. Viele Menschen in Israel haben diese Perspektive nicht.

Als wir 2024 miteinander sprachen, sagten Sie, Sie würden in Israel bleiben – trotz des Krieges in Gaza und all dem Leid seit dem 7. Oktober. Wollen Sie zurückkehren, wenn der Krieg endet?
Mit meinem österreichischen Pass könnte ich vorerst in Deutschland bleiben, aber mein Mann hat nur einen israelischen Pass – allein deshalb müssten wir zurück. Das hier ist unser Leben, Israel ist meine Heimat. Aber im Moment sehe ich keine andere Möglichkeit als zu gehen. Ich möchte nicht Teil dieses wahnwitzigen Krieges sein. Ich verstehe nicht einmal, was das Ziel sein soll. Dass ich jetzt gehe, ist auch eine Form des Protests. Ich verstehe die Menschen nicht, die noch glauben, dieser grausame Krieg und diese irre Regierung könnten zu etwas Gutem führen. Millionen Menschen leiden unter den Entscheidungen einiger weniger.
Unter den Entscheidungen von Benjamin Netanjahu und Ali Chamenei?
Ich kann kaum fassen, wie groß die Macht dieser Herrscher ist. Ihr Machtstreben zerstört unser aller Leben. Das ist eine der schrecklichen Einsichten: Die Stimmen, die wir bei einer Wahl vergeben, entscheiden über unser persönliches Schicksal – nicht nur über politische Belange, sondern über Leben und Tod. Das macht mir Angst. Viele Menschen hier haben mit ihrer Stimme Netanjahu zum Eigentümer meines Schicksals gemacht. Und ich kann nichts ändern, weder mit meinen Worten als Schriftstellerin noch mit Demonstrationen. Es ist wie ein Splitter in meinem Leben, den ich nicht entfernen kann. Mir fehlt das Werkzeug.
Wie ist die Stimmung im Land, worauf hoffen die Menschen?
Viele leben in einer Art Dissonanz. Wer nicht fliehen kann, muss sich anpassen. Einige sagen, sie seien bereit zu sterben, weil das Leben, das sie vor dem 7. Oktober hatten, ohnehin verloren ist. Als der Krieg mit einem israelischen Militärschlag gegen Iran begann, waren viele stolz auf die Stärke des Militärs. Nach dem 7. Oktober sehnten sich viele nach einem Beweis, dass wir nicht schwach sind, dass wir keine Opfer sind. Die Angriffe wurden als Zeichen der Stärke gesehen, das hat vielen imponiert. Auch ich dachte im ersten Moment: Wahnsinn, was die israelischen Piloten da geleistet haben. Aber dann wurde mir klar: Noch mehr Krieg, Hass und Tod können nicht die Lösung sein. Seit zwei Jahren bin ich von Blutvergießen umgeben. Es gibt keine Normalität mehr: Supermärkte, Apotheken, Geschäfte sind geschlossen. In diesem Zustand kann niemand leben wollen. Vielleicht brauchen die Menschen, die diesen Krieg und Netanjahu unterstützen, eine Art Inkubationszeit, um zu verstehen, dass es nicht das ist, was sie wollen.

Sie glauben, Netanjahu nutzt den Krieg gegen Iran, um von Gaza abzulenken?
Netanjahu tut alles für sein eigenes politisches Überleben. Er führt diese Kriege für sich selbst, wir Israelis sind bloß Werkzeuge für ihn. Ich glaube nicht, dass er eine echte Strategie hat. Er will sich durch diese Kriege ein Bild von sich selbst schaffen, will unvergesslich werden. Menschen wie ihn gibt es einige auf der Welt: Sie sind von Macht angezogen und wollen größer sein als andere.
Kam der Militärschlag gegen Iran unerwartet für Sie?
Viele hier meinen, zuerst hätte der Krieg in Gaza enden müssen. Doch der scheint endlos zu sein, die Ziele sind unüberschaubar geworden. Um die Geiseln geht es schon lange nicht mehr. Trotzdem rechneten viele mit einem Angriff auf Iran wegen des Atomprogramms. Auch ich habe damit gerechnet. Die Angst ist so allgegenwärtig, fast als sei sie Teil der jüdischen DNA geworden. Wir fühlen uns ständig von allen bedroht. Doch meine Mutter, eine Holocaust-Überlebende, hat mir immer wieder erzählt, dass sie ausgerechnet von einem deutschen SS-Offizier aus dem Konzentrationslager gerettet wurde. Das erinnert mich stets daran, dass man nicht alle Menschen pauschal zu Feinden erklären kann.
Haben Sie Kontakt zu Menschen in Iran?
Nein, das ist nicht möglich aus Israel. Aber ein sehr guter Freund in Berlin ist mit seiner Familie aus Iran geflüchtet, als er vier Jahre alt war. Er sagt immer: Die einzige Möglichkeit, die Menschen in Iran vom Regime zu befreien, ist der dritte Weltkrieg. Nicht, dass er sich das wünscht – aber das Regime ist so tief etabliert und reich, dass es anders kaum zu stürzen wäre.
Wird sich der Krieg ausweiten?
Ich hoffe, dass wir aufgehalten werden. Ich habe einen Traum – vielleicht klingt das verrückt – aber ich denke: Europa sollte die freie Welt anführen. Die Menschen in Europa haben den Preis des Zweiten Weltkriegs bezahlt. Sie erinnern sich noch daran und haben die Voraussetzungen, Verantwortung für die Demokratie zu übernehmen. Europas Stimme sollte gehört werden.
Donald Trump inszeniert sich als Friedensbringer, drängt Iran zu einem neuen Atomabkommen – und lobt Israels Angriffe. Mit ihm als Präsident, meint er, hätte es den Krieg nicht gegeben.
Bei Donald Trump kann alles passieren: Er könnte einen Weg finden, den Konflikt sofort zu beenden – oder das Gegenteil und eine Eskalation herbeiführen. Er ist nicht konsistent. Aber das ist die Situation der Welt: Es fehlt an Präsidenten, die mächtig sind und trotzdem für Gleichheit, Antirassismus und Demokratie einstehen. Im Moment gibt es niemanden, der einen Unterschied machen kann.
Wir sprechen mittlerweile zum vierten Mal in zwei Jahren. Sie haben den 7. Oktober, den Krieg gegen Gaza und jetzt den Krieg mit Iran miterlebt. Wie schaffen Sie es, die Hoffnung nicht zu verlieren?
Diese Hoffnung entsteht erst im Sprechen. Wenn ich mit Menschen spreche, ist das meine Therapie. Ich muss Antworten finden auf diese schreckliche Situation. Sprache ist mein Ausweg aus dem Inneren, aus den Traumata und Schatten der Vergangenheit und Gegenwart.
Lizzie Doron ist israelische Schriftstellerin. Ihr neues Buch „Wir spielen Alltag. Leben in Israel nach dem 7. Oktober“ ist bei dtv erschienen.