„Danke schön, Frau Doktor“, sagt der in die Wiener Notfallambulanz eingelieferte alte Mann demütig zur Ärztin. Das ö klingt dabei wie ein langes e: „Danke scheeen“. Seiner Tochter Didi, die die Rettung alarmiert hat und ihn als Dolmetscherin begleitet, ist die grobe, slawische Aussprache, die seine Herkunft markiert, peinlich. Die Mittdreißigerin, kurz vor dem Kollaps des kommunistischen Ostblocks in der Tschechoslowakei geboren und in Österreich aufgewachsen, verdeckt ihre Herkunft unter akzentfreiem Hochdeutsch.
Als Schriftstellerin mit Brotjob in einem IT-Forschungszentrum ist sie eigentlich welt- und wortgewandt. Doch die Begegnung mit dem Vater, mit dem sie zehn Jahre nicht gesprochen hat, überfordert sie komplett: „Mein Slowakisch war eine flackernde Glühbirne.“ Noch schlimmer: „Ich war hier das Kind.“
Verpanzerungen einer Ostblock-Durchschnittsfamilie
Mit ihrem vierten Roman begibt sich die 1988 in Bratislava geborene, seit 1991 in Wien lebende (und an der dortigen „Sprachkunst“ lehrende) Didi Drobna aufs boomende Feld des autofiktionalen Erzählens. Das unerwartete Wiedersehen mit dem Vater in einer existenziellen Notsituation setzt, anfangs zögerlich, dann immer tiefschürfender, einen Erinnerungsprozess in Gang, der die Verpanzerungen einer Ostblock-Durchschnittsfamilie freilegt. Schnörkellos organisiert Drobna diesen Bewusstwerdungsprozess ihrer Ich-Erzählerin: Kurze Kapitel aus der Zeit des Krankenhausaufenthalts und der von Rückschlägen unterbrochenen Rekonvaleszenz („Heute“) wechseln unregelmäßig mit reflektierend erinnernden Passagen („Damals“) ab, in einem Fall – dem Kapitel, in dem von Tod und Begräbnis des Großvaters väterlicherseits berichtet wird und die sechsjährige Didi ihren Vater zum ersten und einzigen Mal bitterlich weinen sieht – werden die Ebenen überblendet („Heute und damals“). Mag Reden landläufig Silber sein – Schweigen ist in dieser kleinsten Zelle der Gesellschaft Gold: „Wir sind Familie, wir sind uns fremd. So wie wir hier fremd sind, obwohl wir schon über 30 Jahre in Österreich leben. Unauffällig und anständig, wie meine Mutter gerne sagte. Wir springen nicht hoch. Wir wollen nicht viel.“

Inwieweit der „Horror des Neostalinismus“ und die große „Normalisierung“ nach dem Einmarsch der Sowjets zur emotionalen Blockade des Vaters führten, wird nur angedeutet. 1968 erlebte er als Sechzehnjähriger; damals wundert er sich, „wie still ein Einmarsch klang“. Geschichte, davon ist er als alter Mann überzeugt, wiederholt sich; vom Westen erwartet er nichts: „Sie haben uns vergessen, sie haben die Krim vergessen, und die Ukraine werden sie auch vergessen.“ Die Familie jedenfalls übernimmt die „Unfähigkeit zum Ausdruck“, das „festgezurrte Innenleben“. Je mehr wir über Didis Eltern erfahren – der Bruder, den sie Ende der Neunziger bekommt, bleibt merkwürdig blass –, desto mehr verstehen wir, wie es zum großen Beschweigen gekommen ist: Beide sind Bildungsaufsteiger, doch die Entscheidung für die Freiheit des Westens bezahlen sie mit regelmäßiger Beschämung.
Nach Jahren prekärer Schwarzarbeit in ein legaler Job
Der Diplomingenieur, der in der alten Heimat als Flugzeugmechaniker gearbeitet hat, schlägt sich in Wien zunächst mit Hilfsjobs auf Baustellen und Putzjobs durch. Der Familienpatriarch wird zum König ohne Land, Chefin ist die Mutter: Sie organisiert die Übersiedlung der Familie und schafft es nach Jahren prekärer Schwarzarbeit in einen legalen Job.
Mit der Ankunft des Bruders wird Didi zur Eldest Immigrant Daughter – mit einschneidenden Konsequenzen: „Zusätzlich zu meiner Aufgabe als Fremdenführerin, Übersetzerin und Diplomatin bekam ich nun dieses Kind übergeben. Ich war neun Jahre alt, als ich Mutter Nummer zwei, Elternteil Nummer drei wurde.“ Sie muss funktionieren, und der Druck, dem sie dadurch ausgesetzt ist, wächst wie in einem Schnellkochtopf. Schlussendlich steht der Kontaktabbruch zum Vater, ein letztes Mittel der Selbstrettung. Einzig die aus kleinen Verhältnissen stammende Großmutter ist es, die Didi in einer Welt, in der Kinder früh in ihre Rolle als kleine Erwachsene gedrängt werden, das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Wärme der alten Frau lässt Didi schmerzhaft ihre kulturelle Wurzellosigkeit, die Isolation von der alten Heimat fühlen. „Wir waren Geister, die durch den Westen huschten.“
Wir stolpern durchs Leben, und dann sind wir weg
Als Kind realisierte Didi nicht, dass sie ihren Eltern „beim Erwachsenwerden zusah“ – nun, als erwachsene Frau, realisiert sie, was Vater und Mutter wohl tatsächlich waren – „weltverlorene, überforderte Erwachsene, die viel wagten . . ., die aber vor allem über Hindernisse und Hürden hinwegstrauchelten“. Ein Spruch aus der alten Heimat greift diese besinnungslose Vorwärtsbewegung auf: „Wir stolpern durchs Leben, und dann sind wir weg.“ Fast auf der Zielgeraden des Romans erfahren wir nebenhin, wie Didi zu dieser nüchternen Selbstwahrnehmung gekommen ist: Sie hat, der sich ewig perpetuierenden Familien-Muster müde, nach denen „verletzte Menschen andere Menschen verletzen“, eine Therapie absolviert. Die gibt ihr die Kraft, zumindest den Versuch zu wagen, ihre auf der großen Lebensreise in den Westen emotional ausgebrannten Eltern aus der Erstarrung zu schütteln. Das alles erzählt Didi Drobna genau, warmherzig, lebensklug – in einer melancholisch grundierten, dennoch fast minimalistischen Sprache, die ohne Kunststücke für die Galerie auskommt; Alltagsdialoge und reflektierende Passagen wechseln sich stimmig ab. Bei manchen Kindheitsanekdoten verfällt die stilsichere Autorin ohne Not in eine gefühlige Sechzigerjahre-Diktion, dann ist etwa der Bruder ein „kleiner Frechdachs“ mit „Schalk in den Augen“ oder schläft „an Vaters Haupt geschmiegt“.
Das titelgebende kollektive „Ostblockherz“ schlägt den Menschen, die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs sozialisiert wurden, in der Darstellung dieses Romans etwas zu sehr im Gleichtakt: Ist Fatalismus den Slawen, die mit den Angelegenheiten des Herzens eh etwas hölzern umgehen, angeboren? Kamen Geborgenheit und Nähe im Ostblock nicht vor? Darüber darf trefflich gestritten werden. Aufs Ganze kommt die Familienaufstellung nach Drobna ohne Beipack-Warnung zu Risiken und Nebenwirkungen aus. Dem Herzen des Lesers bleiben allzu wilde Sprünge so allerdings versagt.
Didi Drobna: „Ostblockherz“. Roman. Piper Verlag, München 2025. 168 S., geb 22,– €.