An einem denkwürdigen Abend im Jahr 2022 rotteten sich nahe der alten Stadtmauer in Darmstadt 100 begeisterte Menschen zu einer spontanen Jubelfeier zusammen, köpften Champagnerflaschen im Dutzend und wollten vor acht Uhr morgens gar nicht mehr auseinandergehen – schließlich galt es, ein historisches Ereignis in der Darmstädter Stadtgeschichte gebührend zu würdigen. Was war geschehen? Hatte der SV Darmstadt 98 die Champions League gewonnen? War die hessische Landeshauptstadt von Wiesbaden nach Darmstadt verlegt worden? Oder war gar Georg Büchner von den Toten auferstanden?
Nichts dergleichen, sondern etwas viel Besseres: David und Norman Rink wurden an diesem Tag für ihr Restaurant „Ox“ mit dem ersten Michelin-Stern in der Geschichte Darmstadts ausgezeichnet und beendeten damit den Schrecken einer jahrzehntelangen kulinarischen Finsternis. Ganz gerührt erzählen die beiden Brüder bis heute von der Stegreif-Party mit ihren damaligen und künftigen Stammgästen, und wilder entschlossen denn je wirken sie, Tag für Tag zu beweisen, dass diese Auszeichnung kein Irrtum, sondern hochverdient ist.
David Rink legt als Küchenchef gleich mit einem Tempo und einer Leidenschaft los, wie man es sich vom SV 98 öfter wünschte: Einen Filoteig-Kegel füllt er mit Räucherlachs und Forellenkaviar, einen Taco mit Escabeche-Kürbis und Olivenölmarmelade, eine Tartelette mit geräucherter Makrele und fermentierter Salzgurke – und weil er schon einmal in Schwung ist, folgen eine thailändische Tom-Kha-Suppe mit Perlhuhn, Taube und Ente, Shiitake, Maitake und Zitronengras und der geschmorte Bug eines australischen Wagyu-Rindes mit Selleriewürfeln, Périgord-Trüffeln und Miso. Das ist ein fulminanter Amuse-Bouches-Auftakt voller lustvoll kraftstrotzender Aromen, der keinen Zweifel daran lässt, dass diese Brüder weder Kinder von Traurigkeit sind noch jemals Schmalhans das Küchenregiment überlassen würden.

So opulent geht es weiter. Eine verschwenderische Portion vom bretonischen Hummer, der erst sanft gegart und dann unter dem Salamander temperiert wird, bekommt eine genauso großzügige Entourage aus Fingerlime, Buttermilch, Koriander, Krustentierfond, fermentiertem Knoblauch, Zitronengras-Mayonnaise und Topinambur als Chip, Gelee und Crunch. Das ist ein hochriskanter, aber gelungener Teller, weil trotz der enzyklopädischen Geschmacksvielfalt eine klare Hierarchie herrscht und niemand die Hauptrolle des Hummers infrage stellt. Eher in Richtung Aromen-Punk geht hingegen das Lammbries aus der Normandie, das mit Wintertrüffeln, Berberitzen, Pak Choi, Nonnenziest, schwarzer Walnuss und Kimchi-Velouté einen transkontinentalen Pogo tanzt und die Binsenerkenntnis bewahrheitet, dass sehr viel nicht immer sehr viel hilft.
Dabei ist Maßlosigkeit gar kein Charakterzug, der David Rink vor 38 Jahren in die Wiege gelegt worden wäre. Er wuchs mit seinem Bruder, der Wein und Service im „Ox“ verantwortet, wohlbehütet in Nordbaden auf, wurde schon früh mit der Feinschmeckerei im Elsass vertraut gemacht, fuhr mit der Familie gern zum Froschschenkelessen über den Rhein, kochte nach seiner Ausbildung in gehobenen, aber nicht herausragenden Häusern seiner Heimat und hatte erst spät als Souschef von Kirill Kinfelt im Hamburger „Trüffelschwein“ Kontakt mit der Sterneküche. Das Heimweh trieb ihn dann wieder in den Süden, die Möglichkeit, ein eigenes Lokal mit Wohnzimmercharakter im Ausgehviertel an der Stadtmauer zu übernehmen, wurde 2018 am Schopf gepackt. Und inzwischen betreiben die Brüder auch eine Brasserie und einen großen Veranstaltungsraum in der Stadt, in der sie nicht nur wegen ihres historischen Sterns wenn nicht berühmt, so doch sehr bekannt sind.

Mit einer Handvoll Tische begnügen sich David und Norman Rink in ihrem Lokal und lehnen lieber Reservierungen ab, als sich zu verzetteln. Sie wollen sich vollkommen auf ihre Küche konzentrieren, öffnen nur an drei Abenden in der Woche und bieten auch kein à la carte an, weil jeder Gast das „Ox“, das seinen Namen keinem Rindvieh, sondern dem Sauerklee Oxalis verdankt, glücklich gesättigt verlassen soll. Das fällt nicht sonderlich schwer, wenn man einen so kunstvoll confierten und abgeflämmten Skrei mit Yacón-Wurzeln – einem südamerikanischen Cousin der Topinambur –, Osietra-Kaviar und einer Velouté aus Fischfond und Vin jaune bekommt, einen Teller von barocker Pracht voller kluger Kontraste, der in seiner Großzügigkeit wie so vieles an diesem Abend das Budget für den Wareneinsatz eines Ein-Sterne-Restaurants eigentlich sprengt.
Doch die Brüder wollen es krachen lassen und kaufen deswegen nur die beste Ware, die Bluttaube natürlich von Miéral, dem Gottvater der Geflügelzucht in der Bresse, deren Brust von fermentiertem Rosenkohl, confierten Stachelbeeren, gebratener Foie Gras, einer Fumé von der Tauben-Essenz und der Gewürzmischung Purple Curry mit gargantuesker Großzügigkeit begleitet wird. Andernorts wäre es jetzt Zeit für das Pré-Dessert, bei den Rink-Brüdern aber geht der wunderbare Mummenschanz munter weiter und stellt die Kapazitätsgrenzen selbst geübter Feinschmecker auf die Probe. Eine Jakobsmuschel kommt roh, gebraten und geflämmt mit Papaya-Relish und einer Soße aus der Coraille, Vadouvan und Algen dekorativ in der eigenen Schale als dreistimmiger Pilgergruß ins hessische Binnenland. Und das Perlhuhn, selbstverständlich auch von Miéral, selbstredend in den Varianten Brust, Keule und Herz, setzt der Aromen-Opulenz mit Kumquat, Kastanien, Buchenpilzen, Pastinaken, einer Duxelles aus pürierten Pilzen und einer Albufeira-Soße mit Perlhuhnleber und Cognac die nun doch etwas schwer wiegende Krone auf.
Zum Schluss lässt David Rink seine Zitrusbombe aus Yuzu und Pomelo, Grapefruit und Fingerzitrone, korsischer Mandarine und karamellisiertem Amaranth, Pandan-Parfait und Ponzu-Sorbet platzen. Doch da wissen wir längst, dass im „Ox“ niemand zu Schaden und jeder auf seine Kosten kommt.