Film „Grand Tour“: Ab in den Urwald, eh die Verlobte kommt

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Die Stadt Mandalay im heutigen Myanmar wurde durch ein Gedicht von Rud­yard Kipling verewigt als eine Chiffre für einen asiatischen Orient, in dem selbst ein Angehöriger der britischen Working Class, ein einfacher Mann, mit einer Prinzessin wie aus einem Märchen glücklich werden kann. Natürlich nur in der Phantasie, in einer für immer verlorenen Vergangenheit und vor dem Hintergrund eines Imperiums, das längst zerfallen ist. Von Frank Sinatra gibt es die Interpretation einer Vertonung des Gedichts durch Oley Speaks, er sang dabei völlig unbefangen von einer „Burma broad“, ein respektloses Wort, das bei Kipling nicht vorkommt. Der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes hat Mandalay nun zum Ausgangspunkt einer „Grand Tour“ genommen. Sie beginnt damit, dass ein britischer Vertreter der Krone namens Edward Abbott 1917 in Mandalay auf seine Verlobte wartet. Er hat sie seit sieben Jahren nicht gesehen und kann sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Das Schiff, mit dem Molly erwartet wird, ist schon in Sichtweite, als Edward von Wiedersehens- oder gar Hochzeitspanik ergriffen wird. Er verschenkt die Blumen, die er für Molly besorgt hatte, und sucht das Weite. Rangun, Singapur, Bangkok, Saigon, Manila, Japan, Shanghai und dann den Fluss hinauf in Richtung Tibet, in den Urwald, in das Verschwinden.

Molly lässt sich nicht abschütteln

Eine „Grand Tour“ war früher ein klassisches, koloniales Projekt, in dem Menschen aus dem Westen, die es sich leisten konnten, die Sehenswürdigkeiten einer Weltgegend abklapperten. Edward Abbott hingegen absolviert seine Reise als Habenichts. Schon auf seiner ersten Etappe entgleist ein Zug, bald hat er außer seinem Anzug nur noch wenig vorzuweisen, er verliert jeglichen Status und alle Privilegien. Seine große Tour führt nicht ganz in das Herz der Finsternis, in dem bei Joseph Conrad die kolonialen Expeditionen enden, aber jedenfalls in diese Richtung. Molly aber lässt sich nicht abschütteln. Wenn ihr jemand eine neue Hürde auf dem Weg zu ihrem Verlobten schildert und von einer Weiterreise abrät, dann antwortet sie mit einem prustenden Lachen. Sie jagt Abbott mit Telegrammen, solange ihn noch Post erreicht. Sie lässt sich aber auch, wie das zu großen Reisen gehört, zu längeren Aufenthalten am Rande der Verwunschenheit verlocken – eine grandiose Szene, in der sie zwischen einem Viehhändler und einem fahrenden Tenor die Qual der undenkbaren Wahl hat, ist einer von vielen ­Höhepunkten in einem in jeder Hinsicht abenteuerlichen Film.

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Miguel Gomes wurde zu einer der führenden Figuren eines intellektuellen, hoch reflektierten, dabei jederzeit spielerischen Kinos mit einer Variation auf die Märchensammlung aus den 1001 Nächten: „Arabian Nights“ war halb politischer Traktat, halb situationistische Abschweifung, ein absolutes Schlüsselwerk des neueren Weltkinos. Und auch „Grand Tour“, der nun auf dem Arthouse-Streamingdienst MUBI bereitgestellt wird, ist auf der Höhe des vorangegangenen Meisterwerks. Denn das, was der Titel verspricht, löst Gomes gemeinsam mit seinem „Zentralkomitee“, einer Drehbuchpartnerschaft mit Mariana Ricar­do, Temlo Churro und Maureen Fazen­deiro, auf mehreren Ebenen ein. Grundlage für die erfundene Reise von Edward Abbott und Molly Singleton war eine lange Reise durch Südostasien, die Gomes mit seinem Team unternahm und auf der dokumentarisches Material gesammelt wurde. Ein wichtiger Aspekt liegt dabei auf Bühnenpraktiken, man sieht Puppen- und Schattenspiele und allerhand Verwandtes aus den „performing arts“, bis hin zum Rummel. Mit diesen Aufnahmen gingen die Filmemacher dann ins Studio und fügten eine Spielfilmhandlung hinzu. Das alles ist nun vorwiegend in Schwarz-Weiß zu sehen, mit einer ästhetischen Geste, die an die Frühzeit des Kinos erinnert, als Kameraleute – ­darauf wird ausdrücklich angespielt – auch in Diensten von Trading Com­panies reisten und die Welt einfingen.

Zugleich Direct Cinema und Studio-Kino

Der Begriff einer „Grand Tour“ lässt sich also nicht nur auf geographische Umstände beziehen, sondern auch auf die Filmgeschichte und sogar noch grundsätzlicher auf alle Formen von Weltkontakt, wo er durch Medien vermittelt ist. Der doppelte Kursus, auf dem Edward die Richtung vorgibt und Molly versucht, ihn einzuholen, ist auch eine große Figur für den zutiefst menschlichen Versuch, die Unmittelbarkeit alles Erlebens durch Erzählen festzuhalten, durch Medien zu konservieren, also im Grunde Vergangenheit und Gegenwart zu vermählen. „Grand Tour“ ist zugleich Direct Cinema und Studio-Kino, auch auf dieser Ebene findet die grundlegende Spannung ihren Ausdruck.

Gomes, als Portugiese selbst Vertreter eines untergegangenen Weltreichs, löst auch die klassischen Vorstellungen von Weltaneignung in einer höheren Ordnung auf. Seine Briten sprechen Portugiesisch, werden von portugiesischen Schauspielern gleich einmal gründlich dekonstruiert. Und dann sind auch noch immer wieder Stimmen aus dem Off zu hören, die sich erzählend einschalten und die in der jeweiligen Landessprache sprechen. „Grand Tour“ wird dadurch zu einem polyglotten, polyphonen, chorischen Werk, in dem es vorkommt, dass jemand „Grausames in einer unbekannten Sprache“ äußert – in solchen Momenten kann man Anklänge an unmögliche Expeditionen wie in René Daumals „Der Analog“ erkennen.

Lokale Kulturphänomene wie die Komuso-Mönche (Spezialisten für die Leere) oder ein zentralchinesisches Lied, das entweder von „unendlicher Traurigkeit“ oder von „unendlicher Leidenschaft“ handelt (Eindeutigkeit ist Terror!), werden beiläufig in die ephemere Handlung eingebaut. Und eine Verneigung vor dem Wahnsinn von Werner Herzog, der in „Fitzcarraldo“ ein Schiff durch den Dschungel schleppen ließ, darf nicht fehlen. Alles verweist auf die große Entsprechung zwischen Reisen und Über-Setzen und nimmt schließlich die größte aller Überschreitungen (die über das individuelle Leben hinaus) auch noch in seinen filmischen Körper auf. „Grand Tour“ ist ein Film, für den sich jede Reise lohnt. Wenn er irgendwo auf der Welt auf einer großen Leinwand auftaucht, machen Sie sich auf den Weg. Auf MUBI ist er aber auch nicht verkehrt, dort hat er eine Unterkunft, eine Postadresse. Auch dort wird er sich zu entziehen wissen.

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