Seit der Bundestagswahl im Februar ist viel von der großen Verantwortung der künftigen Regierung die Rede gewesen. Nach einer weit verbreiteten Auffassung könnte sie als letzte die Gelegenheit haben, eine Mehrheit der politischen Extreme im Parlament noch zu verhindern. Schaut man sich die Reaktionen auf den vor einer Woche vorgestellten Koalitionsvertrag an, muss man folglich zum Schluss kommen: Das war’s dann wohl mit der politischen Mitte in Deutschland.
Dass die Opposition die Pläne der künftigen Regierung scharf kritisiert, ist nicht verwunderlich. Doch auch in den künftigen Regierungsparteien selbst, ja in weiten Teilen des Kommentariats regt sich beträchtlicher Unmut. Was für die einen ein Vertrag mit SPD-Handschrift ist, erscheint den anderen wie ein Abdruck des Unions-Programms. Allen aber fehlt „der große Wurf“, eine „ambitionierte Zukunftsvision“, ein „wirklicher Politikwechsel“.
Nun soll gar nicht bestritten werden, dass der Koalitionsvertrag seine Schwächen hat – je nach politischer Präferenz und persönlicher Schwerpunktsetzung könnte jeder ein paar Punkte nennen. Im Großen und Ganzen geht er jedoch in eine Richtung, die sich viele Deutsche ausweislich des letzten Wahlergebnisses wünschen, ob man persönlich zustimmt oder nicht: Begrenzung der irregulären Migration, Entlastungen für die Wirtschaft, kaum Einschränkungen des Sozialstaats, keine weitere gesellschaftliche Liberalisierung. Wer dabei den „großen Wurf“ vermisst, muss sich fragen lassen, was denn der eine große Wurf gewesen wäre – und trotzdem konsensfähig.
Bis in die Neunzigerjahre kaum Koalitionsverträge
Vor allem aber dürften der Vertrag und seine vielen Details für den Erfolg der kommenden Regierung einigermaßen unerheblich sein. Das zeigt ein Blick in die ältere wie die jüngere deutsche Geschichte. Bis in die Neunzigerjahre hinein sind fast alle bundesdeutschen Regierungen ohne Koalitionsvertrag ausgekommen. Die Zusammenarbeit beruhte stattdessen auf informellen Absprachen, auf geteilten Grundsätzen, die in der ersten Regierungserklärung des Bundeskanzlers ihren Ausdruck fanden, und vor allem auf gegenseitigem Vertrauen. Dieses Modell war durchaus erfolgreich: Koalitionsregierungen wurden deutlich häufiger wieder- als abgewählt.
Als Negativbeispiel darf die Ampel gelten. Ihrem im November 2021 mit großem Pomp vorgestellten Koalitionsvertrag mangelte es weder an Detailregelungen noch an großen Worten („Mehr Fortschritt wagen“). Doch wenige Monate später waren die Vereinbarungen weitgehend obsolet, weil der russische Angriff auf die Ukraine die politische Lage grundsätzlich verändert hatte. Erst recht galt dies, als das Bundesverfassungsgericht Ende 2023 den Nachtragshaushalt für verfassungswidrig erklärte und der Regierung damit auf einen Schlag sechzig Milliarden Euro fehlten. Fortan zerrieb sich die Ampel im Streit.
Vorab-Kritik läuft ins Leere
In der Politikwissenschaft gibt es die Unterscheidung zwischen politics und policy, also zwischen politischen Prozessen und politischen Inhalten. Die vergangene Regierung ist mindestens ebenso sehr auf der Ebene der politics gescheitert wie auf jener der policy: nicht unbedingt an einem Mangel an Vorhaben, vielleicht noch nicht einmal an grundsätzlich falschen Vorhaben, sondern an mangelhafter Umsetzung, unzureichender Kommunikation und gegenseitiger Blockade. Über all das kann ein Koalitionsvertrag so gut wie gar nichts aussagen.
Deswegen läuft auch die Kritik ins Leere, wonach zu viel im Vertrag vage gehalten oder unter Vorbehalt gestellt worden sei. Wenn die künftige Koalition als solche gut funktioniert, wird sie immer wieder neue Kompromisse aushandeln, wird nachjustieren, wo die eigenen, von den meisten Menschen geteilten Ziele aus dem Blick geraten, wird auf heute vielleicht noch vollkommen unbekannte Herausforderungen reagieren. Wenn aber nicht, helfen auch die ausgeklügeltsten Vereinbarungen nicht.
Ob die künftige Regierung in der Praxis bestehen wird, lässt sich vor ihrem Antritt kaum sagen. Einige Anzeichen zur Hoffnung gibt es: die vorzeitig abgeschlossenen Verhandlungen, das demonstrative Krisen- und Verantwortungsbewusstsein der Akteure, eine glaubhafte persönliche Annäherung zwischen Lars Klingbeil und Friedrich Merz. Alles andere muss die Zukunft zeigen. Wir sollten Schwarz-Rot eine Chance geben.