Wer aufrüstet, sollte nicht nur an Panzer und Artilleriegeschosse denken. Auch Familienpolitik kann zur Rüstungspolitik werden. Denn die Kinder, die heute und morgen nicht geboren werden, können morgen und übermorgen nicht auf dem Schlachtfeld ihr Leben lassen. Aber das Deutsche Reich hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur Millionen von Toten zu beklagen, sondern wies zwei Jahrzehnte nach Kriegsbeginn auch die niedrigste Geburtenrate in Europa auf. Kamen auf 1000 Frauen im gebärfähigen Alter im Jahr 1910 noch 128 Geburten, so waren es 1933 nur noch 59, also nicht einmal mehr halb so viel.
Unter den zahlreichen Maßnahmen, die von den Nationalsozialisten ersonnen wurden, um die Geburtenrate in Deutschland zu erhöhen, war auch die Gründung eines Vereins: Der Lebensborn e. V. wurde am 12. Dezember 1935 ins Vereinsregister eingetragen, um zu gewährleisten, dass Partei und Staat auch in Zukunft über genügend Führungskräfte verfügen könnten. Die Reproduktion der Eliten durfte nicht diesen selbst überlassen werden, sondern wurde von staatlicher Seite organisiert. Wie so oft im Dritten Reich wurden auch im Lebensborn völkische Ideologie, Bürokratie, Wissenschaft und Pseudowissenschaft, Gewalt und verbrecherische, menschenverachtende Handlungen auf widerwärtige und skrupellose Weise miteinander vermengt.
Eine hohe Aufgabe
Die niederländische Fotografin Angeniet Berkers ist der Geschichte des Lebensborn e. V. und seiner zahlreichen Opfer in einer ausführlichen Untersuchung nachgegangen, die sie mehrere Jahre in Anspruch nahm und in verschiedene europäische Länder führte. Denn der Lebensborn war nicht nur in Deutschland aktiv, sondern auch in einigen Ländern, die von den deutschen Truppen besetzt waren. In Norwegen etwa, das damals etwa drei Millionen Einwohner hatte, waren zeitweise 400.000 Soldaten stationiert. Weil die „nordischen Völker“ als „artverwandt“ galten, entfaltete der Lebensborn hier besonderen Ehrgeiz.

Als „Reichsführer SS“ und späterer „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ hatte Heinrich Himmler wenige Wochen nach dem deutschen Überfall auf Polen einen Befehl an die SS und an alle Polizeikräfte erlassen, der unmissverständlich deutlich machte, was nach Ansicht der Parteiführung das Schlimmste an einem Krieg sei: nicht der „leider notwendige Tod der besten Männer“, sondern das Fehlen der „während des Krieges von den Lebenden und der nach dem Krieg von den Toten nicht gezeugten Kinder“.
Deshalb, so Himmler am 28. Oktober 1938, sei es über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus nötig, auch außerhalb der Ehe Kinder zu zeugen. Es sei für „deutsche Frauen und Mädel guten Blutes“ eine hohe Aufgabe, Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, „von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fallen“.
Die Spuren der Vergangenheit
Der Lebensborn plante die Reproduktion der als besonders geeignet geltenden SS-Männer mit Umsicht, Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Die Empörung, die laut wurde, als Himmlers Befehl, unverheiratete Frauen zu schwängern, bekannt wurde, war rasch beiseitegewischt. Die beschlagnahmte Münchner Villa von Thomas Mann diente dem Lebensborn als Hauptquartier. Von hier aus verteilte man Heime für Mütter und Kinder auf ganz Europa.
Den Anfang machten Heim Friesland, Heim Ostmark, Heim Taunus oder Heim Kurmark. Es folgten SS-Mütterheime in Polen, Luxemburg, Österreich, Belgien, Norwegen und den Niederlanden. Im vorigen Jahr hat Angeniet Berkers, die 1985 in Nijmegen geboren wurde und in Rotterdam lebt, einen umfangreichen Bildband herausgebracht, der dokumentiert, wie gründlich und umfassend die Fotografin ihre Untersuchung angelegt hat.

Sie suchte zahlreiche ehemalige Lebensborn-Heime auf, fotografierte die Gebäude und ihre Umgebung, suchte nach Spuren ihrer Vergangenheit, trug zahlreiche Dokumente und andere Zeugnisse zusammen, ging in verschiedene Archive und führte ausführliche Interviews mit überlebenden Opfern der NS-Reproduktionspolitik. Ihr Band „Lebensborn. Birth Politics in the Third Reich“ ist die Grundlage der gleichnamigen Ausstellung, die zurzeit in der Kunsthalle Rotterdam zu sehen ist.
Spielsachen aus Konzentrationslagern
Die Fotografien zeigen Villen und stattliche Anwesen, deren Inneres oft seltsam kalt wirkt. Daneben liegen in Vitrinen Schriftstücke, einige Alltagsobjekte, wie sie in jedem Kinderheim jener Zeit zu finden wären, sowie absurd anmutende pseudowissenschaftliche Instrumente zur Bestimmung rassischer Merkmale wie Haar- und Augenfarbe, die akribisch in dafür vorgesehenen Formularen notiert wurden. Die Ausstellung ist nicht sehr groß, aber man sollte nicht zu wenig Zeit mitbringen. Denn was man hier sieht, die Schicksale von Müttern und ihren Kindern, die Angeniet Berkers rekonstruiert hat, lähmen den Besucher und nehmen ihm den Atem.
Kinder, die im Lebensborn geboren wurden, wurden in die „Sippengemeinschaft“ der SS aufgenommen. Dafür gab es eine spezielle Zeremonie, bei der ein SS-Dolch über dem Neugeborenen geschwungen wurde, während die Namensgebung erfolgte. Während im zivilen Leben sehr wohl zwischen verheirateten und unverheirateten Müttern unterschieden wurde, gab es im Lebensborn keine „Fräuleins“. Als Anrede diente allein der Vorname. Erst im weitereren Kriegsverlauf, als zunehmend Ehefrauen höherer SS-Offiziere in den Heimen untergebracht wurden, machten sich Klassenunterschiede bemerkbar.
Bis in die letzten Kriegsmonate hinein machte sich die allgemeine Mangelwirtschaft in den Heimen weniger bemerkbar als im zivilen Leben. Die Versorgungslage war gut, man achtete auf eine gesunde Ernährung. Ein Teil der den Kindern zur Verfügung gestellten Spielsachen stammte aus Konzentrationslagern. Das gilt wohl auch für den alten Teddybären, der als stummer Zeitzeuge des Grauens in der Ausstellung zu sehen ist. Er ist eine Leihgabe des Holocaust Memorial Museum in Washington.
Angeniet Berkers hat Gespräche mit neun Opfern des Lebensborn geführt. Sie sind alle weit in den Achtzigern. Manche von ihnen haben erst spät erfahren, dass ihr Vater ein SS-Mann war, andere wurden zur Adoption freigegeben und wissen bis heute nur sehr wenig oder sogar nichts über ihre leiblichen Eltern. Erika Matko war neun Monate alt, als sie in Slowenien von der SS verschleppt und nach Deutschland gebracht wurde. Es hat sehr lange gedauert, bis sie erfuhr, dass Gisela von Oelhafen, bei der sie aufwuchs, nicht ihre leibliche Mutter war. Geahnt hat sie es aber wahrscheinlich schon viel früher: „Ich hatte immer schon das Gefühl, dass ich in Wirklichkeit keine Prinzessin war.“
Angeniet Berkers: Lebensborn. Kunsthalle Rotterdam, bis 13. Juli. Angeniet Berkers’ umfangreiche Fotodokumentation „Lebensborn. Birth Politics in the Third Reich“ ist im Verlag The Eriskay Connection erschienen und kostet 40 Euro.