Manchmal weiß ich nicht, ob ich lachen oder erziehen soll. Besonders dann, wenn meine Tochter mit Downsyndrom meint, das ganze Leben sei eine Bühne.

»Klatschen, bitte!« würde meine Tochter an dieser Stelle sagen (Symbolbild)
Foto: StefaNikolic / Getty ImagesAm Info-Tag ihrer neuen Schule kletterte sie in der Aula spontan auf die Bretter, die ihr die Welt bedeuten. Sie schaute sich ab, was die anderen Kinder aufführten, und warf zum Abschluss ihre Mütze in den Saal. Es sah aus, als sei es einstudiert, so perfekt war der Zeitpunkt des Wurfs. Nur leider war sie gar nicht dran.
Wenn sie im Schwimmbad vom Einer springt, wählt sie vorher fremde Personen aus, die zuschauen sollen. Wenn sie eine Kirche betritt, checkt sie kurz die Lage, flitzt dann nach vorn und predigt mit ausladenden Bewegungen vor leeren Bänken. Oder sie stimmt lautstark ein Weihnachtslied an – überwältigt vom Hall der eigenen Stimme.
Unbestritten hat sie das Talent, Menschen mitzureißen mit ihrer Begeisterung. Kaum einer konnte widerstehen, als sie kürzlich in einem französischen Restaurant aufsprang, sobald die Band die ersten Takte unter freiem Himmel spielte. Was folgte, war ein allgemeines Summen, Singen, Füße wippen zur Feier des Sommers und des Lebens.
Doch natürlich muss auch unsere Tochter lernen, dass sie nicht immer aus der Reihe tanzen kann. Und das bringt mich zu einer Frage, die mich immer wieder beschäftigt: Sind wir als Eltern zu nachsichtig, weil unsere Tochter eine Behinderung hat?
Ich weiß noch, wie einmal eine fremde Familie, die auch ein Kind mit Downsyndrom hat, ein Möbelstück abholte, das wir über Kleinanzeigen verkauft hatten. Wie dieses Kind durch unsere Wohnung fegte, und ich später – schwer genervt und politisch inkorrekt – angesichts des Verhaltens des Mädchens sagte: »Da geht's nicht um Behinderung. Das ist einfach schlecht erzogen.«
Was natürlich gemein war. Denn keiner steckt in fremder Haut und weiß, was dieser Situation vorausging. Welche Überforderung sich hier gerade zeigte, aufseiten des Kindes, aber auch der Eltern. Vieles, was anderen als Zeichen schlechter Erziehung erscheinen mag, ist in Wahrheit differenzierter.
Dass die Tischmanieren unserer Tochter mich oft in den Wahnsinn treiben: ist so. Hat aber auch damit zu tun, dass es manchen Kindern mit Downsyndrom schwerfällt, ein Sättigungsgefühl wahrzunehmen, dass sie dazu neigen zu schlingen, statt sorgfältig zu kauen (Wer mehr über die Geschichte der Tischkultur lesen will: »Was du im Mund gehabt hast, leg nicht aufs Geschirr zurück« ).
Dass unsere Tochter ab und zu ungefragt »auf Wanderschaft geht« – sogar ein eigenes Wort gibt es dafür, es heißt: »Weglauftendenz«. Wobei sie gar nicht wirklich »weg« will, sondern einfach einer Eingebung folgt, wo sie gerade »hin« möchte. Dass unsere Tochter manchmal bockt und in einen Sitz- oder Steh-Streik verfällt, tja, was auch immer die Ursache sein mag: Die Bockigkeit von Kindern mit Downsyndrom ist zumindest legendär.
Man kann allerdings auch von enormer Willenskraft sprechen, und mit dieser Willenskraft hat unsere Tochter gerade ihr Seepferdchen gemacht, 25 Meter ohne Beinschlag. Weil sie um jeden Preis hinwollte, zum anderen Beckenrand, und weil der Bademeister und Mama und Papa zuschauten.

»Heißt nein!«, sagt unsere Tochter gern, wenn sie glaubt, ein einfaches »nein« reiche nicht (Symbolbild)
Foto: StefaNikolic / Getty ImagesOb man es nun Bockigkeit oder Willenskraft nennt, das richtige Maß elterlichen Eingreifens zu finden, ist nicht ganz einfach. Natürlich wirken Klarheit und Konsequenz – die Geheimnisse jeder Erziehung – auch bei unserer Tochter. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Aber ich bin nicht Frau Klawitter (Sie wissen schon, Connis Mutter aus dem Kinderbuch, immer ausgeruht im Erziehungsstil. Lesenswert übrigens diese Familienkolumne »Conni muss(te sterben«).
Ich habe manchmal schlicht nicht die Kraft zur Konsequenz. Manchmal möchte ich auch einfach, dass wir alle einigermaßen fröhlich essen. Oder einigermaßen fröhlich den Ausflug beenden. Und da hilft endloses Schimpfen und Zurechtweisen nicht.
Es gibt einen Gegenstand, der symbolisch steht für den Pragmatismus, für den wir uns oft entscheiden: die Essmütze. Die trägt unsere Tochter, damit ihre Haarsträhnen nicht auf dem Teller hängen – und weil sie sich standhaft einem Zopf verweigert. An manchen Tagen sehe ich sie als Zeichen unseres Versagens. An den meisten Tagen will ich einfach nur, dass sie auf dem Kopf sitzt, dem Dickkopf. Und an vielen Tagen finde ich, dass diese Mütze unserer Tochter ausgesprochen gut steht. Denn sie hat das, was man ein Hutgesicht nennt. In unserem Fall ein pfiffiges, liebenswertes Mützengesicht.
Wann sind Sie pragmatisch in der Erziehung? In welchen Situationen verzweifeln Sie – und finden dann doch einen Weg, der zwar nicht im Ratgeber steht, aber zum Ziel führt? Schreiben Sie mir gern Ihre Erfahrungen an familiennewsletter@spiegel.de .
Meine Lesetipps
Die Mutter-Tochter-Beziehung hat viele Facetten, schöne und anstrengende, das kann ich als Tochter und Mutter bestätigen. Und da würde vermutlich auch meine Tochter zustimmen, die sich innerhalb einer Viertelstunde gefühlsmäßig zwischen »Ach, Mama, liebe Dir!« und »Du nicht mitkommen. Du zu Hause bleiben!« bewegen kann.
Wer über dieses besondere Verhältnis nachdenken möchte, dem empfehle ich das sehr lesenswerte Gespräch meiner Kollegin Heike Le Ker mit der Sozialpsychologin und Mediatorin Sarah Trentzsch. Schon die erste Frage: »Was macht eine gute Mutter aus?« und die erste Antwort: »Eine gute Mutter zeichnet aus, dass sie auch ohne ihre Kinder glücklich ist und ein erfülltes Leben hat« haben mich gefangengenommen.
»Ein Leben lang Tochter« ist die Überschrift eines Artikels, in dem erwachsene Frauen zu Wort kommen und über die Konflikte mit ihrer Mutter sprechen. Offen berichten sie über enttäuschte Erwartungen, aber auch über Entwicklungen, die zu mehr innerer Freiheit führten. Auch dies ein Text meiner Kollegin Heike Klovert, der nachhallt.

Mutter-Tochter-Beziehung: Nähe oder Enge? Oder beides zugleich?
[M] Sarah Dillon / DER SPIEGEL; Fotos: Anna Ziegler / DER SPIEGEL (2); Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL
Wenn Sie wie ich eine besondere Beziehung zu Ihrem morgendlichen Kaffee haben, sollten Sie diesen Artikel nicht verpassen: »Wie gesund ist Kaffee wirklich?« Ich verrate es Ihnen schon jetzt: Er soll eine positive Wirkung haben. Nicht nur auf die Laune, was ich schon vorher wusste. Sondern auf die Gesundheit.
Gute Laune kann es auch machen, alte Spielsachen gewinnbringend zu verkaufen. Doch wem steht der Erlös zu? Und entwerten große Geldsummen, die plötzlich das Sparschwein füllen, spätere Geschenke? Wie kann man lernen, Geld sinnvoll einzuteilen? Oder die Freude am Spenden zu wecken? Meine Kollegin Verena Töpper ist diesen Fragen nachgegangen.
Das jüngste Gericht
Bevor der Sommer und dieser Text enden, will ich Ihnen noch diesen Artikel ans Herz legen: »In sieben Schritten zur entspannten Gartenparty (die nicht perfekt sein muss)« . Dort finden Sie auch leckere Rezepte für Dips und Salate. Und wenn Sie die Gartenparty nicht mehr schaffen, erfreuen Sie sich wenigstens an der Kolumne meines Kollegen Markus Deggerich, der von seinen Restaurantbesuchen mit Kindern berichtet.
Er erzählt von der sogenannten »Kinderkarte, die meinem Eindruck nach weltweit normierter ist als das deutsche Ingenieurswesen«. Und wie er – nach eigener Aussage – zum »Tischdiktator« wurde: »Ich sortiere bei jedem Essen mehrfach die Gläser um, als wäre es ein Schachspiel; während mein linkes Auge das Essen-Arrangement fixiert, scannt mein rechtes die aktuelle Position aller Gläser und berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der es in den nächsten fünf Minuten umgeschmissen wird.« Glas-Schach, Essmützen – gemeinsame Mahlzeiten halten Familienleben und Familienkolumnen gleichermaßen am Laufen.
Mein Moment
In meinem letzten Newsletter erzählte ich davon, wie unerschrocken unsere Tochter viele Situationen meistert. Auf die Frage »Was können Ihre Kinder besser als Sie?« schrieb mir unsere Leserin Anna Ikramova: »das ganze Digitale. Die Logik der Apps und der Endgeräte erschließt sich ihnen schneller als mir – sie sind »native speaker« der digitalen Sprache, ich nicht, obwohl ich sie auch gern (und gut) gelernt habe.
Aber auch das: argumentieren; authentisch sein, sozial interagieren. In ihrem Alter hatte ich mehr Angst, mich von allen Seiten zu zeigen. Sie sind kompetent und selbstbewusst. Das ist toll und erfüllt mich mit Stolz.«
Zum Schluss will ich Ihnen noch eine Anekdote aus unserem Sommerurlaub erzählen. Wir waren auf einem französischen Bauernhof zu Gast, und dort schaute unsere Tochter, die sich sonst wenig für Tiere interessiert, gern beim Ziegengehege vorbei. Eines Morgens stellte sich der Ziegenbock vor ihr auf die Hinterhufe, worauf unsere Tochter begeistert rief: »Wahnsinn, Ziege!« Und als der Bock den Kopf mit seinen Hörnern neigte, kommentierte sie kichernd: »Verbeugen!«
Vielleicht hat unsere Tochter ja recht, und zumindest das halbe Leben ist eine Bühne? Bis zum nächsten Mal!
Herzlich,
Ihre Sandra Schulz