Weit mehr als 100 000 ukrainische Soldaten dürften im Kampf für ihr Land bereits ums Leben gekommen sein. Die Zahl gefallener Russen schätzte der russischsprachige Dienst der BBC Mitte April gar auf zwischen knapp 160 000 und fast 230 000. Und ein Ende der Kriegshandlungen ist vorerst nicht absehbar: Am Freitag hatten sich Vertreter der Ukraine und Russlands zwar in Istanbul zu Gesprächen getroffen.
Nach weniger als zwei Stunden endeten sie und brachten offenbar keine Fortschritte. Andriy Jermak, Stabschef von Präsident Wolodimir Selenskij, kommentierte, die russische Delegation habe auf der Basis von 2022 verhandeln wollen. „Aber das Einzige, was die heutigen Verhandlungen mit dieser Periode verbindet, ist die Stadt Istanbul.“
Im März und April 2022 - kurz nachdem Russland die Ukraine überfallen hatte -, blieben Verhandlungen zwischen Ukrainern und Russen in Istanbul ohne Ergebnis, weil Moskau eine neutrale Ukraine mit Rumpfarmee verlangte, faktisch eine ukrainische Kapitulation, wie die seitdem bekannt gewordenen Vertragsentwürfe zeigen.
Der Ort war dieses Mal derselbe, der Dolmabahçe-Palast am Bosporus. Doch der Verhandlungstag begann anders als erwartet: Zuerst trafen der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow, Außenminister Andrij Sybiha und Präsidialamtschef Andrij Jermak den US-Sondergesandten Keith Kellogg, den französischen Präsidentenberater Emmanuel Bonne, Bundeskanzler Friedrich Merz’ außenpolitischen Berater Günter Sautter und den englischen Sicherheitsberater Jonathan Powell.
Dann sprachen die türkischen Gastgeber mit Ukrainern und Amerikanern, zu denen Außenminister Marc Rubio stieß, gefolgt von einem kurzen Treffen zwischen Russen und Amerikanern. Erst am Freitagmittag setzten sich endlich Russen und Ukrainer an einen Tisch. Schon zwei Stunden später war das Gespräch wieder beendet – offenbar ergebnislos. Für Kiew verkündete Jermak auf X, es seien „praktische Schritte für einen gerechten und dauerhaften Frieden für die Ukraine diskutiert“ worden. „Eine volle, bedingungslose Waffenpause ist die Grundlage für weitere Entscheidungen.“ Zu der aber kam es nicht.
Präsident Donald Trump hatte schon vor dem Treffen vom Freitag angesichts des Fernbleibens Putins gesagt, eine Chance auf Frieden gebe es erst, wenn er sich persönlich mit Wladimir Putin treffe. Eine konkrete Planung dafür fehlt bisher freilich; Kreml-Sprecher Peskow wiegelte ab, zuvor seien etliche Fragen zu klären. Wäre Putin selbst in den Flieger gestiegen und nach Istanbul gekommen, hätte wohl auch Trump einen Zwischenstopp dort eingelegt. Weil Putin fernblieb, ließ auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sich in Istanbul durch Mitarbeiter vertreten und flog selbst zu einem Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in die albanische Hauptstadt Tirana.
Bundeskanzler Friedrich Merz kündigte nach Putins Fernbleiben von den Istanbuler Gesprächen lange erwartete neue EU-Sanktionen an. „Ein neues Sanktionspaket ist fertig. Wir werden es am Dienstag in Brüssel beschließen“, schrieb der Kanzler auf X. Entsprechend äußerte sich etwa Großbritanniens Premier Keir Starmer.
Einen Friedensprozess kann man die bisherigen Gespräche noch nicht nennen. Darauf deuten nicht nur die mit unvermittelter Heftigkeit weitergehenden russischen Angriffe mit Kamikazedrohnen, Marschflugkörpern und Raketen hin. Die ukrainische Luftwaffe etwa meldete allein für die Nacht auf Freitag gleich 112 angreifende russische Kamikazedrohnen, von denen 73 abgeschossen worden seien. Auch um den Verkehrsknotenpunkt Pokrowsk und andere Stellen der Front wird mit neuer Heftigkeit gekämpft, rücken die Russen langsam vor – und damit nicht genug.
Der US-Fernsehsender CNN zitierte am Donnerstag zwei US-Offizielle, denen zufolge Russland im Grenzgebiet zur Ukraine eine erhebliche Zahl von Soldaten für eine weitere Offensive zusammenziehe. „Russland will eine große Streitmacht schaffen“, so der erste Offizielle. „Putin wird versuchen, jedes Gebiet zu erobern, das er bekommen kann, bis zu den Außenbezirken von Kiew“, so der zweite Offizielle.
Während der Vorbereitung für eine mögliche neue Großoffensive sollen die Gespräche in Istanbul offenbar lediglich zur Ablenkung dienen. Das russische Oppositionsmedium Meduza konnte Anweisungen des Kreml-Apparats an russische Staatsmedien einsehen, wie die Gespräche in Istanbul zu beschreiben seien. Russische Medien sollten demnach behaupten: „Die Verhandlungen finden in einer schlechteren Position für die Ukraine statt“, da Russlands militärische Stärke seit 2022 sehr gewachsen sei.
Ein kremlnaher Propagandist sagte Meduza, der Kreml gehe davon aus, dass die Gespräche in Istanbul „in einer Sackgasse enden“. Deshalb solle angesichts möglicher weiterer Sanktionen – etwa durch die EU – betont werden, dass „Russland erfolgreich mit den Herausforderungen durch alle Sanktionen klarkommt“ und Sanktionen schon im russischen Haushalt eingeplant seien, so die Vorgaben.