Klimaschutz: Europa sucht ein Schlupfloch

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So ein Koalitionsvertrag ist immer ein Kompromiss. Die einen wollen etwas mehr Klimaschutz, die anderen etwas weniger, und am Ende steht da so etwas wie die Abmachung von Union und SPD. „Das europäische Klima-Zwischenziel für 2040 in Höhe von minus 90 Prozent gegenüber 1990 unterstützen wir“, heißt es da. Das aber mit Bedingungen. „Maximal drei Prozent“, so hielten die Partner fest, dürften durch „hochqualifizierte, zertifizierte und permanente Projekte in außereuropäischen Partnerländern“ zustande kommen.

Es ist ein Aber, das von Brüssel nach Berlin kam und nun nach Brüssel zurückwandert. Experten fürchten Schlupflöcher, die sich schwer kontrollieren lassen. Doch vielleicht ist das auch genau der Zweck.

Seit Monaten arbeitet die EU-Kommission an neuen Klimazielen auf dem Weg zur Klimaneutralität bis 2050. Bis zur nächsten UN-Klimakonferenz im November in Brasilien muss sie ein neues Aktionsprogramm für die Zeit bis 2035 vorlegen, die erste Frist dafür war eigentlich schon im Februar abgelaufen. Und als neue Etappe will die Kommission ein Klimaziel für 2040 festlegen. Schon im vorigen Jahr hatte sie dafür ein Minus von 90 Prozent gegenüber 1990 angepeilt, bisher aber informell.

Im vorigen Jahr allerdings hatte der Ehrgeiz auch noch eine andere Funktion. Nach der Europa-Wahl brauchte die neue Kommission die Stimmen der Grünen im Europaparlament, die 90 Prozent Emissionsminderung machten sich da gut. Jetzt dagegen fahndet die Kommission offenbar nach einem Schlupfloch.

Was zunächst einleuchtend klang, lief in der Praxis nicht so gut: Viele Projekte ließen sich kaum dauerhaft kontrollieren

Jedenfalls berichten einige, die mit den deutschen Koalitionsverhandlungen vertraut sind, dass sich auch EU-Klimakommissar Wopke Hoekstra aktiv einbrachte – und für jene Einbeziehung von Emissionsminderungen im Ausland plädierte, die sich nun im Vertrag wiederfindet. Die Union musste er da nicht lange überzeugen.

Solche Ideen sind in der internationalen Klimapolitik nicht neu. Schon das Kyoto-Protokoll von 1997 kannte den sogenannten Clean Development Mechanism, kurz CDM. Damit sollten sich Anstrengungen im Ausland, von der Verteilung von Solarkochern über Aufforstungen bis hin zur Errichtung von Windparks auch zur Minderung von Emissionen anrechnen lassen. Die Philosophie war einleuchtend: Wenn dem Klima letztlich egal ist, wo Emissionen entstehen, ist es eigentlich auch egal, wo sie vermindert werden.

In der Praxis lief es nicht ganz so gut. Viele der Projekte ließen sich kaum dauerhaft kontrollieren. Teils wurden besonders klimaschädliche Fabriken eigens errichtet, um anschließend für ihre Stilllegung Zertifikate zu kassieren, die sich dann für viel Geld verkaufen ließen. Klimaschutzeffekt: null.

Trotzdem lässt auch das Paris-Abkommen in seinem Artikel 6 den internationalen Handel mit Klimazertifikaten zu. Nach zähen Verhandlungen einigten sich die Staaten bei der Klimakonferenz in Baku im vorigen Jahr auf Regeln dazu. Mittlerweile ist die Sache sogar noch komplizierter geworden – schließlich verpflichtet das Paris-Abkommen nun alle Staaten zum Klimaschutz, nicht mehr nur die Industrieländer wie einst das Kyoto-Protokoll. Es besteht also immer die Gefahr, dass Projekte doppelt gerechnet werden: Einmal in dem Land, in dem die Emissionen gemindert werden, und dann in jenem, das die Zertifikate erwirbt. Zwei Tonnen stehen dann auf dem Papier, nur eine Tonne wurde gemindert. Und missbrauchsanfällig bleibt das System auch.

„Die drei Prozent sind die deutsche Position. Es ist nicht gesagt, dass es dabei bleibt.“

Experten warnen deshalb davor, sich auf derlei Rechenoperationen überhaupt einzulassen: „Ich kenne niemanden, der davon ausgeht, dass es mit Artikel 6 unter dem Paris-Abkommen besser läuft als mit dem CDM-Mechanismus unter dem Kyoto-Protokoll“, sagt Oliver Geden, Klimapolitik-Experte an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. „Da ist Missbrauch nicht schwer.“ Wenn überhaupt, müsste die EU zeigen, dass sich wirklich ein Goldstandard solcher Projekte etablieren lasse. „Aber die Kosten solcher Projekte wären vermutlich so hoch, dass sie unattraktiv werden“, sagt Geden. Warnende Stimmen gibt es auch in der EU-Kommission.

Doch die Büchse der Pandora ist nun geöffnet – und der Klimaschutz im Ausland nun ein dankbarer Ausweg für alle EU-Staaten, denen die Brüsseler Klimapläne zu weit gehen. Denkbar seien am Ende auch Vorgaben, die weitaus mehr solcher Kompensationen zulassen, als es im Berliner Koalitionsvertrag steht, warnt Geden. „Die drei Prozent sind die deutsche Position. Es ist nicht gesagt, dass es dabei bleibt.“

Lange kannten Europas Klimaziele nur eine Richtung: Sie wurden strenger. Zwischen 2019 und 2024 hat die EU im Zuge ihres Green Deal eine ganze Reihe von Klimagesetzen erlassen. Bis 2030 sollen sie die CO₂-Emissionen in der EU um 55 Prozent im Vergleich zu 1990 senken. Zu diesem Zweck wurde beispielsweise der CO₂-Emissionshandel für energieintensive Branchen (ETS) verschärft und erweitert, außerdem ein neuer Emissionshandel (ETS2) für Straßenverkehr und den Gebäudesektor beschlossen. Er soll Anfang 2027 in Kraft treten.

Die EU-Kommission teilte vor zwei Wochen mit, Europa komme dem 55-Prozent-Ziel bis 2030 ganz nahe – vorausgesetzt, die Mitgliedstaaten setzen ihre Pläne um. Doch in vielen Ländern gibt es mittlerweile große Widerstände gegen die Klimapolitik. Die Regierungen fürchten den Volkszorn, wenn die Preise für Heizen und Autofahren steigen oder Arbeitsplätze in der Industrie verloren gehen. Vor allem der polnische Ministerpräsident Donald Tusk meldet Bedenken an.

„Wenn in Brüssel wirklich beschlossen wird, was im deutschen Koalitionsvertrag steht, dann sollten wir alle feiern.“

Bremst nun also auch die neue deutsche Regierung Europas Klimapolitik? Die Frage gehe völlig am Thema vorbei, sagt der CDU-Europaabgeordnete Peter Liese, Klimaexperte der Europäischen Volkspartei (EVP). „Wenn in Brüssel wirklich beschlossen wird, was im deutschen Koalitionsvertrag steht, dann sollten wir alle feiern.“ Denn fraglich sei, ob es in der EU überhaupt in absehbarer Zeit ein Einverständnis über eine Fortschreibung der Klimapolitik gibt. Mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten seien noch nicht einmal für den deutschen Vorschlag bereit. Selbst Frankreich wackele.

Klimaschützer verfolgen die Entwicklung besorgt. „Mit Entsetzen sehe ich, wie gerade alle möglichen Industrien darum buhlen, ihre jeweiligen Emissionen dauerhaft durch billige Zertifikate kompensieren zu können, bis hin zur Autoindustrie“, sagt Germanwatch-Chef Christoph Bals. Sollte die EU am Ende über die deutsche Drei-Prozent-Vorgabe hinausgehen, „haben wir wirklich ein Problem“.

Liese teilt die Bedenken gegen die internationalen Zertifikate. Er sieht aber auch das 90-Prozent-Ziel kritisch, weil es Europas Unternehmen überfordere. Deshalb hält er die deutsche Kompromisslinie für einen gangbaren Weg, um auf EU-Ebene einen Kompromiss zu finden. Der Streit könnte sich lange hinziehen, und man könne nicht ausschließen, dass die EU sich „auf die Knochen blamiert“, fürchtet Liese.

Aber vielleicht sind auch die 90 Prozent das Problem, die Brüssel gerne öffentlichkeitswirksam vor dem EU-China-Gipfel im Juli in Peking veröffentlichen will. „Es wäre ehrlicher, statt der 90 Prozent 85 Prozent festzulegen, dafür aber auf Minderungen im außereuropäischen Ausland zu verzichten“, sagt SWP-Experte Geden. Erstens sei das mit der Klimaneutralität bis 2050 immer noch kompatibel. „Und zweitens würde man so gar nicht erst Schlupflöcher öffnen, die sich später womöglich kaum noch kontrollieren lassen.“

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