Immer im Frühjahr macht das Bundesverfassungsgericht eine Aufstellung von Verfahren, deren Entscheidung es im laufenden Jahr „anstrebt“. Und weil selbst die höchsten Richter Deutschlands nicht alles erreichen, wonach sie streben, haben manche Klagen einen festen Platz auf dieser jährlichen Liste des guten Willens. Der Fall von Vera Egenberger, die sich vor nunmehr 13 Jahren erfolglos um eine befristete Referentenstelle beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung beworben hatte, stand 2020 zum ersten Mal auf der Liste, verschwand im Jahr 2023 und kam im Jahr darauf wieder. Und siehe da: An diesem Donnerstag wird eine Entscheidung veröffentlicht.
Der Fall Egenberger hat es aber nicht nur durch sein Alter in Fachkreisen zu Berühmtheit gebracht. Gestritten wird über die Frage, ob der kirchliche Arbeitgeber den ausgeschriebenen Job an eine Religionszugehörigkeit der Bewerberin knüpfen durfte oder nicht. Das ist ein Konflikt, der sich inmitten eines regelrechten Epochenwandels abspielt: Wie viel Loyalität, wie viel Nähe zum Glauben dürfen kirchliche Arbeitgeber ihren Beschäftigten abverlangen? Und wie intensiv darf die Kontrolle durch staatliche Gerichte ausfallen?
Vera Egenberger hatte sich um eine Teilzeitstelle beworben, sie hätte dort Berichte zur Umsetzung der UN-Antirassismuskonvention verfassen sollen. Es war mithin ein Job, der Positionen der Diakonie Deutschland auch nach außen sichtbar machen sollte – freilich zu Menschenrechtsthemen, nicht in Glaubensdingen. Die Sozialpädagogin bekam eine Absage. Weil sie damals bereits aus der Kirche ausgetreten war.
Die staatlichen Gerichte sind im Spiel, kirchliche Selbstbestimmung hin oder her
Der anschließende Rechtsstreit hatte bereits Rechtsgeschichte geschrieben, bevor er überhaupt in Karlsruhe angekommen war. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) gab der Frau im Jahr 2018 recht. Den Gerichten sei es zwar verwehrt, das „Ethos“ einer Kirche zu beurteilen; aus Glaubensfragen habe sich die staatliche Justiz herauszuhalten. Weil aber die Kirche nun mal nicht außerhalb der Welt agiert, dürfen und müssen die staatlichen Gerichte sehr wohl darüber urteilen, ob jemand diskriminiert wird – zum Beispiel wegen seiner Religion oder Weltanschauung.
Der EuGH formulierte dafür einige Vorgaben. Ist eine Kirchenmitgliedschaft für eine ausgeschriebene Stelle wirklich notwendig? Ist sie objektiv notwendig, gemessen am kirchlichen Ethos? Verhältnismäßig? Kurzum: Die staatlichen Gerichte sind im Spiel, kirchliche Selbstbestimmung hin oder her. Das Bundesarbeitsgericht sprach Egenberger kurz darauf eine Entschädigung zu.
Mit seinem Urteil schien der EuGH unweigerlich auf ein Zerwürfnis mit dem traditionell kirchenfreundlichen Bundesverfassungsgericht hinzusteuern. In einem Karlsruher Urteil von 2014 ging es zwar um eine Kündigung, nicht um eine abgewiesene Bewerbung. Ein geschiedener Chefarzt in einem katholischen Krankenhaus sollte, als er erneut heiratete, seinen Job verlieren. Wegen der Unauflöslichkeit der Ehe war das damals ein No-Go, fand sein Arbeitgeber.

Das Bundesverfassungsgericht gewährte den Kirchen damals einen atemberaubend weiten Spielraum bei der Definition solcher Loyalitätspflichten. Zur Selbstbestimmung, aus der sich der Staat tunlichst heraushalten solle, gehöre eben auch das karitative Wirken. Also das Krankenhaus und damit der Chefarzt. Das Anforderungsprofil für solche Stellen sollten die Gerichte lediglich auf „Plausibilität“ prüfen dürfen. Das war ein anderes Wort für die maximale Zurückhaltung der Arbeitsgerichte.
Der EuGH hingegen gab dem Chefarzt recht und drehte damit das Karlsruher Urteil; das Egenberger-Urteil lag nur wenige Monate zurück. Anforderungen an den Mitarbeiter müssten „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ sein. Das Verbot der Wiederheirat für Geschiedene gehöre für den Leiter der Inneren Medizin eher nicht dazu. 2019 sprach das Bundesarbeitsgericht das letzte Wort. Der Chefarzt hatte gewonnen.
Der für Kirchenfragen zuständige Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist neu zusammengesetzt
Eine Konfrontation mit dem Bundesverfassungsgericht blieb damals aus, weil die Kirche den Chefarzt-Fall nicht noch einmal nach Karlsruhe trug. Wird das nun nachgeholt, an diesem Donnerstag?
Nun, die Welt hat sich seither weitergedreht. Der für Kirchenfragen zuständige Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist neu zusammengesetzt. Die Riege der Männer, die sich 2020 im Verfahren um das EZB-Anleihekaufprogramm schon einmal in einen epischen Streit mit dem EuGH geworfen haben, ist ausgeschieden. Zuständig für das Verfahren ist jetzt Christine Langenfeld, die deutlich ausgleichender sein dürfte als der davor mit dem Fall befasste Peter Müller.
Zudem sind auch die Kirchen auf ihrem Weg in die Gegenwart vorangekommen. 2022 und 2023 modernisierten die katholische wie die evangelische Kirche die Anforderungen an ihr Personal. Vielfalt wird gutgeheißen, die Privatsphäre der Mitarbeitenden respektiert. Kirchenmitgliedschaft wird nur von Personen verlangt, die das Profil der jeweiligen Einrichtung prägen und nach außen repräsentieren, heißt es in beiden Regelwerken weitgehend gleichlautend.
Die Kirchen mögen sich liberalisiert haben. Aber der Kampf um ihre Selbstbestimmung ist keineswegs zu Ende
Vera Egenberger hätte man aber auch nach den neuen Regeln abgewiesen, hatte das Evangelische Werk vergangenes Jahr mitgeteilt. Denn ihre Referentenstelle hätte beides mit sich gebracht, Profilverantwortung und Außenwirkung. Heißt: Die Kirchen mögen sich liberalisiert haben. Aber der Kampf um ihre Selbstbestimmung ist keineswegs zu Ende.
Gestritten wird aktuell zum Beispiel über den Kirchenaustritt. Im Frühjahr hat der EuGH über die Klage einer Caritas-Mitarbeiterin aus der Schwangerenberatung verhandelt; ein Urteil steht noch aus. Sie war aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil das Geld knapp war. Die Familie sollte wegen einer Sonderregel ein Kirchgeld aus dem Einkommen des Mannes zahlen – der selbst nicht mehr in der Kirche war. Die Frau war loyal und gläubig, trotzdem folgte die Kündigung.
Für beide Kirchen, muss man dazu wissen, ist der Austritt von Mitarbeitern sehr viel gravierender als deren bloße Nichtmitgliedschaft. Bei Katholiken führt der Austritt „in der Regel“ zur Kündigung, in evangelischen Einrichtungen ist der Rauswurf in solchen Fällen immerhin „als letzte Maßnahme“ möglich, wenn gute Worte nicht helfen. Der offene Bruch wird offenbar als feindseliger Akt gewertet.
Die katholische Kirche reklamierte bei der Anhörung letztlich ein pauschales Sonderkündigungsrecht, das andere Arbeitgeber nicht haben. Wer die Kirche verlässt, der lässt auch die Arbeitsstelle hinter sich. Kaum anzunehmen, dass der EuGH das akzeptiert. Es wird auf eine Abwägung hinauslaufen – über die Religionsfreiheit der Frau, den Status der Kirchen, die Bedeutung einer Mitgliedschaft für die Schwangerenberatung. Nüchtern, liberal, weltlich.
Ein Richter kam damals auch auf die leidige Karlsruher Chefarzt-Entscheidung zu sprechen, die mit ihrer tiefen Verbeugung vor der kirchlichen Selbstbestimmung so unrettbar quer zur europäischen Linie im kirchlichen Arbeitsrecht zu liegen scheint. Der Richter hat in dem Text trotz alledem ein Signal entdeckt, das eine Annäherung der Gerichtshöfe möglich erscheinen lässt. Selbst ein schwerwiegender Loyalitätsverstoß, so hieß es dort, entbinde die Arbeitsgerichte „nicht von der Pflicht zur Abwägung der kirchlichen Interessen mit den Belangen des Arbeitnehmers“. Das klang doch ganz vernünftig, oder?












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