Die Lüge, von der wir leben, ist derzeit in der schönen Sonderausstellung „Pulcinella – Giambattista & Giandomenico Tiepolo zwischen Komik und Abgrund“ in Würzburg zu sehen. Damian Dombrowski, der Direktor des Martin von Wagner Museums, erzählt einem sehr viel Instruktives zu einem Gemälde mit lauter Pulcinellen, den obszönen Clowns des neapolitanischen Vergnügungstheaters. Sie sind bei Tiepolo unter sich und kochen Gnocchi, ihre Leibspeise. Denn ihre weißen Kegelhüte sind nichts als Gnocchi-Kochtöpfe. Kostüm und Nahrung hängen zusammen. Und obwohl kein Publikum dabei ist, tragen sie weiter ihre Masken, ihre falschen Bäuche und Buckel. Sie bleiben in ihrer Rolle, weil sie wissen, dass sie einander nichts vormachen müssen. Das Durchschauen der Illusion, die sie nährt, ist hier zum Bild geworden.
Genau dieser Maxime folgt der Regisseur Johannes Erath, der mit dem Ausstatter Kaspar Glarner eine visuell spektakuläre Neuinszenierung von Georg Friedrich Händels Zauberoper „Alcina“ an der Oper Frankfurt herausgebracht hat. Die Zauberin Alcina lockt Männer an, macht sie sich sexuell gefügig und verwandelt sie „danach“ in Büsche, Steine oder Tiere, bis ihr Zauber von Bradamante, die ihren Geliebten Ruggiero zurückerobern will, durchbrochen wird. Man kann diese Geschichte auf dreierlei Weise erzählen: als naive Befreiung und Wiedervermenschlichung verhexter Männer, als Dialektik von Aufklärung und Entzauberung mit allen erfahrenen Verlusten, als Psychogramm einer Frau, die ihren Zauber einbüßt und preisgeben muss, wen sie liebt.
Erath und Glarner entscheiden sich gegen solche Erzählungen von Entwicklung und Einsicht, von linearen oder dialektisch gebrochenen Prozessen. Bei ihnen durchschauen alle von Anfang an, dass sie in Lügen und Illusionen gefangen sind. Es wird ja auch ständig von allen zu allen gesungen: Du betrügst mich, aber ich komme von dir nicht los. Dieses Nichtloskommen fassen Glarner und Erath in die Zustandsbeschreibung eines in sich kreisenden Lustschmerzes, eines glückssaugenden Leidens an der Lüge. Geheimnisse gibt es nicht. Intime Geständnisse haben immer Zuschauer, die sie eigentlich nichts angingen. Aber wie die Pulcinellen bei Tiepolo wissen auch hier alle, dass sie sich nichts vormachen müssen, weil sie vom Einandervormachen leben.
Alcinas Reich ist das Schlafzimmer einer hochbarocken Residenz. Die Wände bewegen sich aber ganz surreal, weshalb die Bühnenarbeiter, die viel zu schieben haben, am Ende einen Sonderapplaus bekommen. Auf die Entstehungszeit der Oper – 1735 – spielen die Kulissen ebenso an wie Silhouettenprospekte von Wellen oder Bäumen.

Doch diese Bedeutungsschicht barock-höfischer Kultur wird überlagert durch Varieté und Zirkus. Katharina Magiera als Bradamante wird von Michael Porter als Oronte auf offener Bühne zersägt; danach gleitet der Kasten mit ihrem Kopf über den Bühnenboden – und sie singt weiter. In Tricks wie diesen erfährt die Tradition der Zauber- und Maschinenoper ihre gewitzte Aktualisierung. Varieté und Barock werden aber ihrerseits überschrieben vom Vokabular des Surrealismus: von Schwarz-Weiß-Videos blinzelnder Augen und der Deckzeichnung des Surrealisten André Masson zu Gustave Courbets Gemälde des weiblichen Genitals „L’origine du monde“. Dazu kommen erlesene Kostüme: Alcinas blassrosafarbenes Paillettenkleid samt Umhang mit grauem Pelzbesatz ist haute couture für die Diva von heute.
Monika Buczkowska-Ward fällt schon in ihrer ersten Arie als Alcina auf durch geschmackvolle Melismen im Dacapo. Auch wenn man manchmal fürchtet, dass ihre Stimme schon über die Partie hinausgewachsen sei, berühren ihr Pianissimo und das lange An- und Abschwellenlassen der Stimme auf einem Ton stark. Shelén Hughes als Morgana zwitschert ihre Koloraturen nicht nur quick und knackig daher, sie gibt ihnen eine expressive Qualität, wenn sie – stilvoll – aus Abwärtssprüngen wahre Wonnejuchzer macht. Clara Kim als Oberto und Erik van Heyningen als Melisso nutzen die jeweils einzige Arie, die ihnen geblieben ist, für starke Eindrücke stimmlicher Brillanz und sprachgesteuerter Beweglichkeit.
Der Alt von Katharina Magiera als Bradamante findet zu wirklichem Glanz in der Höhe, während er in der Tiefe zuweilen durch seltsamen Druck irritiert. Elmar Hauser hat als Ruggiero eine zarte, schöne, saubere Countertenorstimme, nur sehr groß ist sie nicht. Julia Jones als Dirigentin des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters tut alles, um ihn behutsam zu umhüllen und zu tragen.
Achtsamkeit ist ohnehin eher ihre Stärke als Leidenschaft, affektive Glut oder orchestrale Beredsamkeit. Dafür sorgen Ingo de Haas an der Violine und Johannes Kofler am Violoncello mit Solokadenzen für Momente der Bezauberung. Ulrich und Karen Hübner an den Waldhörnern blasen intonationsstabiler als manch ein Solist auf dem modernen Ventilhorn, und das sogar noch im Pianissimo. Am Ende stellt Erath wieder alles auf Anfang – und zwischen den verweinten Frauen und Männern sitzt manch ein Clown mit weißem Hut.