Foto und Titelzeile ließen wenig Spielraum für Interpretationen. Abgebildet war auf der Titelseite der italienischen Tageszeitung „Il Fatto Quotidiano“ vom vergangenen Donnerstag ein fast aufs Skelett abgemagertes Kind aus dem Gazastreifen. Die Dachzeile verkündete: „Gazahorror: Weitere 15 Hungertote und 952 Lastwagen mit Hilfsgütern blockiert“. Unter dem Foto des ausgemergelten Kindes standen die Worte: „Se questo è un bambino“. Die Titelzeile war eine erkennbare Anspielung auf das 1947 erschienene Buch „Se questo è un uomo“, in welchem der jüdische Schriftsteller Primo Levi (1919 bis 1987) die Geschichte seines Überlebenskampfes in Auschwitz protokollierte. Das Buch erschien 1961 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Ist das ein Mensch?“. Entsprechend wäre die Titelzeile der Zeitung mit „Ist das ein Kind?“ ins Deutsche zu übertragen. Das von der Zeitung suggerierte Narrativ ist klar: Was Palästinenser wie das abgebildete Kind zurzeit im abgeriegelten Gazastreifen erleiden, soll mit dem Schicksal des Turiner Juden Primo Levi in dem deutschen KZ Auschwitz assoziiert werden. Die Opfer des Holocausts, so wird insinuiert, sind zum Tätervolk des Völkermordes an den Palästinensern geworden.
Ergänzend wurden die Leser des Blattes in der Bildzeile am Fuß der Fotografie mit folgender Erklärung informiert: „Die ersten Fotos: Unterernährte Kinder in den sozialen Medien und in der Weltpresse“.
Das Titelbild von „Il Fatto Quotidiano“ und dessen Beschriftung ist nun selbst zum Gegenstand einer Mediendebatte in Italien geworden. Denn bei der Abbildung des ausgemergelten Kindes handelt es sich nicht um eines der „ersten Fotos“ von (ver)hungernden Kindern aus dem Gazastreifen, wie die Zeitung behauptet. Vielmehr wurde das Foto des fünf Jahre alten Jungen Osama al-Raqab schon im April in Gaza aufgenommen. Der Junge leidet an der vererbten Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose (zystische Fibrose). Er gehört zu einer Gruppe von 17 kranken und verletzten Kindern, die am 11. Juni gemeinsam mit 53 Angehörigen von der italienischen Luftwaffe vom Flughafen Ramon bei Eilat im Süden Israels nach Mailand gebracht wurden. Italien hat nach Angaben des Außenministeriums in Rom seit dem Beginn des Krieges mit humanitären Flügen mehr als 700 Palästinenser aus dem Gazastreifen nach Italien gebracht, jeweils in Kooperation mit den israelischen Behörden.
Flug mit dem überlebenden Kind nach Italien
Beim Flug vom 11. Juni waren auch der elf Jahre alte Junge Adam al-Najjar und seine Mutter Alaa al-Najjar dabei. Außenminister Antonio Tajani begrüßte die beiden noch an Bord des Militärflugzeugs. Adam war bei einem israelischen Bombenangriff Ende Mai in Khan Yunis verletzt worden, neun Geschwister und der Vater starben. Die Mutter Alaa al-Najjar überlebte, da sie zum Zeitpunkt der Bombardierung bei der Arbeit in der Kinderklinik von Khan Yunis war, und kam mit ihrem einzigen überlebenden Kind nach Italien. Die Knochenbrüche und Nervenverletzungen am linken Arm von Adam al-Najjar wurden im Mailänder Niguarda-Krankenhaus operiert. Nach italienischen Medienberichten erholt sich der Junge gut.
Auch Osama al-Raqab geht es dank der Behandlung in Italien deutlich besser. Das italienische Nachrichtenportal Open publizierte am Freitag aktuelle Fotos des Buben aus der Mailänder Klinik. Behandlung, Pflege und bessere Ernährung haben erkennbar angeschlagen. Am selben Tag veröffentlichte „Il Fatto Quotidiano“ jedoch einen weiteren Artikel über Osama al-Raqab, verfasst von der palästinensischen Studentin Aya Ashour, die am 25. Juni selbst aus Gaza nach Italien gekommen war – mit einem Stipendium der Universität Siena. Darin behauptet die Autorin – Artikelüberschrift „Sind das Kinder? Die Geschichte von drei Kleinen ohne Nahrung in Gaza“ – unter angeblicher Berufung auf Osamas Mutter, deren Sohn liege im Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis und leide schwer. Obwohl sich der Junge zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels schon seit sechs Wochen in Italien aufhielt und sich deutlich erholt hatte.
Mehrere Aufnahmen von Osama al-Raqab in der Nasser-Klinik des Fotografen Abdel Kareem Hana hatte die Nachrichtenagentur AP schon Anfang Mai veröffentlicht – mit ausdrücklicher Erwähnung von dessen Leiden an Mukoviszidose, das sich seit dem Krieg verschlimmert habe. Wurde die Information über die schwere Erkrankung des Jungen von der Redaktion des „Fatto Quotidiano“ übersehen? Oder wurde sie absichtlich weggelassen, um die „ikonische“ Aufnahme von einem abgemagerten Jungen fast drei Monate nach deren Entstehung aus politischem Kalkül aufs Titelblatt zu setzen?
Wie wurde die Entscheidung zur Veröffentlichung getroffen?
Ähnlich liegt der Fall bei den Fotos von Mohammad Zakaria Ayoub al-Matouq, geboren Ende Dezember 2023. Das Baby leidet nach Recherchen des britischen Investigativjournalisten David Collier an schweren Behinderungen, mutmaßlich verursacht durch eine vererbte genetische Störung, darunter zerebrale Kinderlähmung und Hypoxämie (Sauerstoffarmut im Blut). Der Junge benötigt seit der Geburt spezielle Nahrungsergänzungsmittel, muss teilweise künstlich ernährt werden.
Die Aufnahmen des Jungen in Gaza postete der Fotograf Ahmad Jihad Ibrahim al-Arini am 22. Juli auf seinem Instagram-Account, von dort wurden sie von der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu übernommen. Erstmals erschien eine Aufnahme des schwerbehinderten (und abgemagerten) Kindes tags darauf auf der Titelseite des britischen „Daily Express“. Binnen Kurzem wurden Fotos und Videos von Mohammad al-Matouq auch von internationalen Medien wie CNN, BBC und Sky News, der „New York Times“, des „Guardian“ und der „Times“ (London) veröffentlicht. Auf der Website dieser Zeitung erschien ein von der Agentur AP versendetes, ähnlich drastisches Bild, zu dem es heißt, es zeige Naima Abu Ful mit ihrem zwei Jahre alten Sohn Yazan im Shati-Flüchtlingslager im Gazastreifen.
Die „New York Times“ versah den Aufmacher ihrer internationalen Ausgabe mit dem Foto des abgemagerten (und schwerbehinderten) Mohammad al-Matouq und der Titelzeile „Gazans are dying of starvation“ (Die Menschen im Gazastreifen verhungern). Die Londoner „Times“ überschrieb das Foto mit „Mass starvation accross Gaza“ (Massenhunger in ganz Gaza).
Ob die Entscheidung zur Veröffentlichung der Fotos des abgemagerten Kindes ohne Angaben zu dessen schwerer Vorerkrankung aus Nachlässigkeit oder in manipulativer Absicht erfolgte, kann für jeden einzelnen Fall kaum geklärt werden. Jedenfalls fanden Aufnahmen, auf welchen auch der drei Jahre alte Bruder Mohammads sowie dessen Mutter Huda Yassin al-Matouq in keineswegs unterernährtem Zustand zu erkennen sind, nicht oder erst sehr verspätet den Weg an die internationale Öffentlichkeit. Oder die Aufnahmen wurden so bearbeitet, dass zumal der drei Jahre alte Bruder Joud nicht zu sehen ist, denn der sieht recht wohlgenährt aus. Auf die Frage „Ist das ein Kind?“, würde man beim Anblick von Joud al-Matouq aus Gaza antworten müssen: „Ja, das ist ein Kind.“