Hans-Christoph Rademann leitet die Bach-Akademie Stuttgart und die Gaechinger Cantorey. Dort hat er ein Jahr lang die Kantaten aus Johann Sebastian Bachs erstem Leipziger Amtsjahr als Thomaskantor 1723/24 aufgeführt und mit Podiumsgesprächen begleiten lassen. Das Projekt hieß „Vision Bach: Mit Bach das Leben begreifen“. Die Kantaten erscheinen jetzt nach und nach auf CD. Wir sprachen anlässlich von „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt“, BWV 18, und „Herr, wie du willt“, BWV 73, über Grundsätzliches.
Hört man sich den Anfang der Kantate BWV 73, „Herr, wie du willt“ an, so hat Johann Sebastian Bach einen regelrechten Mahlstrom des Ungemachs komponiert. Kämpfen da Menschen auf Leben und Tod mit einer Umwelt, die ihnen nicht wohlgesinnt ist?
Ja, würde ich sagen. Da wird ein Blick auf Lebensprobleme geworfen, die wir bis heute nicht losgeworden sind. Nur mag zu Bachs Zeiten die Nähe zum Tod größer gewesen sein, auch die Dringlichkeit, den Tod ins Leben zu integrieren. Allein schon die Kindersterblichkeit war viel höher als heute. Aber dieses Angegangenwerden von Schicksalsschlägen, gegen die wir nicht ankommen, überträgt sich musikalisch bis heute ungeheuer stark.
Ist das anziehend, sich mit solchen Erfahrungen auseinanderzusetzen?
Ich finde schon. Irgendwann muss sich jeder Mensch dem eigenen Tod oder dem seiner Eltern stellen. Und dann wird man genau mit den Fragen konfrontiert, die sich Bach hier aufwirft. Ich glaube, dass zudem niemand momentan in der Lage ist, die Konflikte, die auf dem europäischen Kontinent im Gange sind, aus seinen Gedanken völlig auszublenden. Da wird gestorben ohne Ende, ohne dass es einen Sinn oder eine Notwendigkeit dafür gäbe.
Zugleich heißt es immer wieder, dass der moderne Wohlfahrtsstaat der größte Gegner der Kirchen und des christlichen Glaubens sei. Wir lösen unsere Probleme mit Versicherungssystemen und Medizin selbst. Was an Unangenehmem bleibt, wird durch die Unterhaltungsindustrie ausgeblendet.
Man darf die Menschen nicht über einen Kamm scheren. Lösen wir uns einmal von Deutschland. Es gibt weltweit eine enorme Begeisterung für Bach. Mich erreicht gerade die Anfrage, ob ich die erste Matthäuspassion in Ecuador dirigieren könnte. Dort habe sich ein Bach-Orchester gegründet. In Südamerika wird die Bach-Begeisterung immer größer. Zugleich führe ich mit meinen Studenten an der Musikhochschule Dresden regelmäßig Bach-Kantaten auf. Die Reihe läuft seit dem Jahr 2000, und das Publikum rennt mir die Bude ein. Wir müssen jedes Mal den Vorraum öffnen und die Leute in den Flur setzen, weil wir sie nicht alle im Saal unterbekommen. Es gibt ein Riesenbedürfnis nach Bach. Und selbst Studenten, die schon die Hochschule verlassen haben, möchten weiter mitspielen, weil es ihnen so viel bedeutet.
Wegen der Musik? Oder auch wegen der Texte?
Die Musik kann man nicht lösen von den Texten, weil die Texte ein bestimmtes Thema haben. Ich muss aufpassen, das nicht zu stark zu verkürzen, aber es geht oft darum, die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht zu verpassen: das Gute, was vor uns liegt, nicht zu verschmähen, nicht daran vorbeizulaufen. Es geht um ein gelingendes Leben, das durch bloßen Konsum nicht zu erreichen wäre. Und diese Botschaft hat durchaus Allgemeingültigkeit.
Lässt sich das tatsächlich aus dem christlichen Glaubenshorizont lösen?
Ich denke, ja. Es wird in den Kantatentexten viel verhandelt, sogar, dass man seine Steuern zahlen müsse, der Umgang mit dem Geld wie mit dem Nächsten. Jedes Mittel, das den Menschen darauf hinweist, dass er Nächstenliebe üben müsse, ist doch zu begrüßen. Das ist kein alleiniges Thema des Christentums oder der Kirche, sondern ein gesamtgesellschaftliches.
Aber bleiben wir bei der Kantate BWV 73: Wie soll man jemandem klarmachen, dass die Annahme von Schicksalsschlägen Gottes Wille sei und deshalb sinnvoll, wenn er oder sie nicht daran glaubt?
Es geht wohl eher darum, wie man überhaupt damit zurechtkommt, wenn etwas nicht so läuft, wie man sich das vorgestellt hat. Es geht um das Erlernen von Akzeptanz. Das hört jeder beim Psychologen: Man müsse zuerst das Problem zulassen und anschauen, um eine Lösung zu finden.
Die andere Kantate, BWV 18, die Sie gerade aufgenommen haben, beginnt mit einer Schilderung von Regen und Schnee, die vom Himmel fallen als Gleichnisse für das Wort Gottes, das Frucht in seinen Hörern bringen soll. Nach meinem Eindruck haben Sie das Unangenehme dieses Niederschlags, die Meteorologie in der Theologie, klanglich stark herausgearbeitet.
Ich kenne natürlich die Aufführungstradition dieser Kantate gut. Meistens nehmen die Interpreten im Eingangschor ein sehr schnelles Tempo für den Sechsvierteltakt. Das malt das Meteorologische des Vorgangs noch drastischer. Mir ging es um etwas anderes: Auch das Gesetz Gottes, die zehn Gebote, wurden auf die Erde herabgegeben. Durch das langsamere Tempo wollte ich zeigen, dass das ziemlich große Brocken sind, die da vom Himmel fallen, nicht nur Regentröpfchen.
Wie viel mag sich einem Hörer von Ihren Überlegungen mitteilen, der barocke Figurenlehre und musikalische Rhetorik nicht in einem solchen Maße verinnerlicht hat wie Sie?
Solche Vorstellungen übertragen sich schon. Würden wir aber nach dem Hören Stellungnahmen einsammeln zur Frage „Was habt ihr da gehört?“, ergäbe das sicher ein breites Spektrum. Genau diese Vielfalt ist sinnvoll. Um die Anregung geht es, nicht um die Deckungsgleichheit mit meinen Vorstellungen. Die Differenzen können sogar produktiv sein. Ich finde das ganz wunderbar.
In der Motette „Ich bin ein rechter Weinstock“ von Heinrich Schütz hatte ich mich einmal bemüht, den Satz „Ihr seid die Reben“ so plastisch musizieren zu lassen, dass das Bild von einem Wulst entsteht, der sich um seine eigene Achse dreht – wie eine Weinrebe. Aber ein Hörer sagte mir: Das klang, als hätte jemand etwas getrunken – als ob da etwas gerade die Kehle hinunterrinnt. Das war für mich ein Beispiel für eine hörend begriffene Intention bei einem völlig anderen Bild. Ich glaube, jetzt auch mit den Bach-Kantaten eine Methode entwickelt zu haben, die jedem Hörer genügend Material gibt, um treffende Bilder als Verständniszugang zu entwickeln.

Die Farbigkeit des Instrumentalklangs spielt dabei eine große Rolle.
Der Instrumentalpart muss sich seines Sprechens bewusst werden, seiner Funktionalität im Dienst an einem Grundgedanken. In der Kantate BWV 73 sind die vier Töne zu „Herr, wie du willt“ ein schlagkräftiges Mantra, gegen das Bach kreiselnde Figuren der Oboe setzt, die alles miteinander verbinden können, sogar die Choräle und Rezitative. Diese Oboen-Kreise gleichen aus, was vom Horn im Mantra sehr hart gesetzt wird. So entsteht Balance. Auch die zwei Arien, eine mit obligater Oboe, die andere mit Geige, haben eine ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Motivik. Bach betreibt hier eine gedankliche Vernetzung, mit der er die Kantate zusammenfasst.
Wie soll mir Bach, ganz konkret, helfen, mein Leben zu begreifen?
In BWV 18 heißt es im Duett der beiden Männersolisten, dass sich der eine nur um den Mammon kümmere, der andere nur um den Bauch, ein Nächster sei von Wollust gefangen – Bach fasst alles zusammen, was unwichtig ist und uns von den wirklich wichtigen Dingen im Leben wegzieht. Er lässt uns durch seine Musik begreifen, wie wir das Wichtige und das Unwichtige im Leben voneinander trennen können. Die Musik sensibilisiert uns dafür, dass wir uns auch selbst retten müssen.
Sich selbst retten? Das wäre aber sehr unbachisch und unlutherisch gedacht!
Natürlich. In dem Fall ist es schon so, dass uns der Glaube retten soll. Ich kann für mich sagen, dass ich dieses persönliche Halteseil auch habe. Ich habe aber beobachtet, dass das fürs Hören und Berührtsein nicht relevant ist, ob man, was der Text sagt, bekenntnishaft glauben kann. Die Empfindung einer Geborgenheit oder einer stützenden Energie stellt sich trotzdem ein. Wir arbeiten ja auch sehr viel mit jungen Menschen. Und während ich früher bei einem Bach-Projekt mit Kantaten in einem kleinen Vortrag dem Publikum Brücken zu bauen suchte, so machen meine Studenten das inzwischen nicht mehr mit und bestehen darauf, selbst zum Publikum zu reden. Da sagt dann ein junger Mensch mit großem Nachdruck, ganz im Sinne Bachs, man solle Vertrauen zu Jesus haben – und ich weiß nicht einmal, ob das wirklich ein gläubiger Mensch ist. Aber er versteht den Inhalt und teilt ihn dem Publikum mit.
Bei der Vorstellung Ihres Projekts „Vision Bach: Mit Bach das Leben begreifen“, hatten Sie vor zwei Jahren gesagt, Bach entwerfe immer eine freudige Zukunft. Ob das ein Publikum, das nicht glaubt, angesichts solcher Texte wie „Mich ekelt, mehr zu leben“ oder „Ich freue mich auf meinen Tod“ wirklich so empfindet?
Den Einwand kann ich sehr gut verstehen. Da kommt man um eine historische oder theologische Vermittlung nicht herum. Vielleicht würden wir die Texte heute anders gestalten. Aber die Musik fügt dem Text etwas hinzu und bringt uns selbst die sperrigsten Verse noch glücklich in die Ohren. Sonst würden sich die Hörer ja auch beim Weihnachtsoratorium kaputtlachen bei einem Text wie „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“. Es lacht aber keiner! Alle sind von einem erhabenen Gefühl ergriffen und gehen fröhlich aus dem Konzert.
Sie haben die Kantaten in Konzerten aufgeführt. Hätten sie auch im liturgischen Zusammenhang noch eine Zukunft?
Das kommt auf die Kirche an. Man braucht einen Gottesdienst, in dem der Pfarrer sich die Mühe einer kantatenbezogenen Wortauslegung macht. Und er muss es interessant machen. Das kann sehr gut gelingen. Die Aufforderung zur Demut, zu verantwortlichem Handeln, zur Akzeptanz des eigenen Endes – das sind alles Themen, welche die Menschen auch unabhängig von der Kirche beschäftigen.
Bachs Chance wächst also dann, wenn die Menschen Sinn-Angebote suchen, weil die Moderne von einer Verheißungsgesellschaft in eine Risikogesellschaft – wie Ulrich Beck das einmal genannt hatte – umschlägt?
Absolut! Gerade bekam ich ein Buch von Hartmut Rosa geschenkt: „Demokratie braucht Religion“. Es wird auf unterschiedlichsten Wegen nach Sinn gesucht. Es gibt, auch in anderer Literatur oder in Musik, die Gott nicht direkt anspricht, das Thema der „überirdischen Empfindung“. Das muss etwas mit der Seele zu tun haben. Ich hatte hier bei den Bach-Kantaten einen jungen Sänger im JSB-Ensemble, dessen Mutter während der Arbeitsphase in dessen Heimatland gestorben war, der sich aber trotzdem entschieden hatte, hier noch das Konzert zu singen und niemandem von dem Todesfall etwas erzählt hatte. Diese Beschäftigung mit Bach hat solch große Bedeutung für die Leute, dass ich mich in meinem Engagement dafür auch nicht kirre machen lassen werde.
Sie machen ja in der Bach-Akademie Stuttgart in dieser Hinsicht viel mit Kindern und Jugendlichen.
Und da habe ich eben gemerkt, wie einfach es ist, jungen Menschen diese Musik nahezubringen. Man muss es nur machen. Allerdings braucht man eine gewisse menschliche Reife für die Schwere dieser Themen. Doch grundsätzlich verweigern sich die Kinder und Jugendlichen dem gar nicht. Wir müssen sie nur finden – dann kommen sie auch zu uns. Wir müssen gute Erstkontakte zu dieser Musik ermöglichen, dann verlieren sie komplett ihre Berührungsängste damit.
Johann Sebastian Bach: The First Cantata Year, Vol. 7. Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann. 2 CDs, Hänssler Classic.