Grenzkontrollen: Der große Test für die Reisefreiheit in Europa

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Die Kontrollen begannen pünktlich um Mitternacht. An 52 Grenzübergängen werde die Grenze zu Deutschland nun auch auf polnischer Seite kontrolliert, erklärte Polens Regierung. Innenminister Tomasz Siemoniak war allerdings sichtlich bemüht, beim Start den Grenzstreit zu entschärfen. „Die Kontrollen richten sich gegen diejenigen, die an der illegalen Schleusung von Migranten über die Grenze beteiligt sind. Normale Reisende haben nichts zu befürchten“, postete er via Kurznachrichtendienst X.

Nichts zu befürchten also? Auf deutscher Seite sieht man das etwas anders, seit nun auch 800 polnische Grenzschützer, 300 Polizisten, 200 Militärpolizisten sowie 500 Angehörige der freiwilligen Heimatschutzverbände die Grenze bewachen. Der Polen-Beauftragte der Bundesregierung, der Bundestagsabgeordnete Knut Abraham (CDU), warnte am Montag vor „Megastaus“. Brandenburgs parteiloser Innenminister René Wilke fürchtete gar „Verkehrskollapse“. Für die Menschen „dieser ganzen Grenzregion wird das gravierende Auswirkungen haben, und das sind Hunderttausende Betroffene“, sagte er. Doch hatte Deutschland mit seinen Kontrollen seit Anfang Mai die Reaktion erst provoziert.

Es geht um den Wesenskern der EU

Bis mindestens 5. August wird die eigentlich vom Schengen-Abkommen garantierte Reisefreiheit auf eine neue Probe gestellt. Dabei steht der Luxemburger Ort eigentlich für eine der größten Errungenschaften Europas. Nach der luxemburgischen Prinzessin Marie-Astrid ist das Schiff benannt, auf dem am 14. Juni 1985 auf der Mosel das Schengen-Abkommen unterzeichnet wurde. Der luxemburgische Staat hat es dieses Jahr aus Anlass des 40. Jahrestags aus Deutschland zurückgekauft, wo es zwischendurch für Ausflüge auf der Donau verwendet wurde. Bei den Jubiläumsfeierlichkeiten wurde es in Anwesenheit der Prinzessin neu getauft auf den Namen Marie-Astrid Europa.

Mittlerweile stellt sich allerdings die Frage: Geht das Schengener Schiff, und mit ihm Europa, unter?

Reisen ohne Grenzkontrollen zählt zum Wesenskern des freien Europas. Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande unterzeichneten damals das Abkommen. Mittlerweile sind 25 EU-Staaten (alle außer Irland und Zypern) sowie Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz dem Abkommen beigetreten. Doch im Kampf gegen die irreguläre Migration nach Europa haben mittlerweile zwölf Staaten bei der EU-Kommission zeitlich befristete Grenzkontrollen angemeldet, wie sie das Schengen-Abkommen erlaubt. Die Nummer zwölf: Polen.

Das vereinigte Europa ist zerbrechlich

Der Zwist der europäischen Schwergewichte Deutschland und Polen zeigt exemplarisch, wie zerbrechlich das vereinigte Europa ist. Die EU-Kommission als Hüterin der europäischen Verträge sieht weitgehend machtlos zu, wie die temporären Kontrollen zu einer Art Dauerzustand werden. Sie könnte politischen Druck aufbauen, sogar Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Aber letztlich kann sich die EU kaum wehren, wenn die Nationalstaaten damit argumentieren, öffentliche Ordnung und innere Sicherheit seien bedroht.

Der für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissar Magnus Brunner, ein Österreicher, lässt immer wieder warnen, dass die Kontrollen nicht zum Dauerzustand werden dürften. Wie seine Chefin Ursula von der Leyen setzt er darauf, dass sich das Problem mit der europäischen Asylrechtsreform erledigt, die im vergangenen Jahr beschlossen wurde und im Sommer nächsten Jahres in Kraft tritt. Sie soll verhindern, dass Migranten weiterhin durch Europa reisen und ihren Asylantrag in einem Land ihrer Wahl stellen können. An den EU-Außengrenzen sollen ankommende Migranten dann möglichst lückenlos erfasst werden. Asylbewerber mit geringen Aussichten auf Erfolg sollen interniert und nach einem ablehnenden Bescheid im Schnellverfahren sofort wieder abgeschoben werden.

Für den Rest sollen wieder die Regeln durchgesetzt werden: Zuständig für das Verfahren ist im Prinzip der Staat, in dem die Migranten europäischen Boden erreichen, also vor allem Länder wie Italien und Griechenland. Die anderen leisten Solidarität, indem sie Kontingente an Geflüchteten übernehmen, oder, wenn sie das nicht wollen, Entschädigung an Länder wie Italien oder Griechenland zahlen.

Innenpolitischer Druck lastet auf Donald Tusk

Die Reform kann nur funktionieren, wenn die Regierungen einander vertrauen. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat aber bereits angekündigt, er werde sich dem Abkommen verweigern. Es sei Polen nicht zuzumuten, in großer Zahl Menschen aus Afrika aufzunehmen – was das Land allerdings gar nicht müsste. Das Veto ist wohl innenpolitischem Druck geschuldet, genau wie die Einführung von Grenzkontrollen.

Als europäische Nummer 13 möchte demnächst auch Belgien Grenzkontrollen einführen. Die Regierung hat „die härteste Migrationspolitik in der Geschichte des Landes“ angekündigt. Die zuständige Ministerin Anneleen Van Bossuyt verwies auf die Kontrollen in den großen Nachbarländern Deutschland und Frankreich: Wenn man sich nicht wehre, werde Belgien zum Zufluchtsort für alle Migranten, die anderswo zurückgewiesen werden.

Der Wettlauf um härtere Asylregeln dürfte erst einmal weitergehen. In der nächsten Woche soll das Thema buchstäblich ganz oben landen. Am Freitag will Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) Deutschlands Nachbarn auf Deutschlands höchsten Berg zum „Zugspitz Summit on Migration“ einladen. Geplant ist eine „Zugspitz-Erklärung“. Im Zentrum solle die Neuordnung der europäischen Migrationspolitik stehen, die Bekämpfung von Schleusern, mehr Rückführungen und der stärkere Schutz der europäischen Außengrenzen. Ziel sei es, bei dem Treffen der Innenminister Deutschlands, Frankreichs, Polens, Österreichs, Dänemarks und Tschechiens „wichtige Impulse für eine härtere europäische Migrationspolitik zu geben und eine Agenda für den Migrationsturbo in Europa vorzulegen“.

Längst sind in Brüssel auch Gesetze in Arbeit, die es erlauben würden, Migranten in „sichere Drittstaaten“ zu schicken, die sie nie zuvor betreten haben. Darüber, heißt es, könnten sich selbst die zerstrittenen Regierungen in Berlin und Warschau verständigen.

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