Als ich unsere Freundin, die Buchhändlerin, besuchte, kam plötzlich ihr Mann Ullrich zur Ladentür hinein, winkte mir im Vorbeilaufen zu und zeigte mit wichtiger Miene an die Decke und zum Aufsteller mit den Taschenbüchern der C.-H.-Beck-Wissensreihe. Dann verschwand er im hinteren Teil des Ladens, wo die Kaffeemaschine stand und die Buchhändlerin jeden Abend ihre Abrechnung machte.
„Was meint er? Verstehst du das?“, fragte ich die Buchhändlerin.
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte sie, „aber vermute, dass sich diese Wissensbücher sehr gut verkaufen.“
Ich muss ratlos geschaut haben.
„Sie gehen durch die Decke, verstehst du? Deshalb hat Ullrich nach oben gezeigt.“
„Ist das manchmal anstrengend“, fragte ich, „das mit den Zeichen, die man verstehen muss?“
Die Buchhändlerin lachte. „Frag das mal Ullrich“, sagte sie. Dann verabredeten wir uns zum nächsten Spieleabend.
Spion mit Teleskopantenne
Diesmal hatte meine Frau ein Kartenspiel besorgt: „Codenames“, das den Kampf zweier Geheimagentengruppen simulierte. Beim Essen fragte Ullrich meinen nordhessischen Cousin, ob er damals an der innerdeutschen Grenze nicht auch die Scharmützel der Agenten aus Ost und West mitbekommen hätte, die DDR hätte man doch von Kassel aus mit einem anständigen Fernglas gut ausspionieren können. Aber mein Cousin meinte, er hätte damals kein Fernglas gehabt, nur einen mobilen Fernseher mit Teleskopantenne. Damit hätte man ein grieseliges Bild des DDR-Fernsehprogramms bekommen, was sich nicht groß gelohnt hätte.
Meine Frau legte 25 Wortkarten im Quadrat aus. „Kohle“, stand auf einer, „Wand“, „Stadion“, „Daumen“, „Futter“, „Essen“ und „Mal“ auf anderen. Ullrich und ich saßen nebeneinander auf der einen Seite des Spielfelds, er als Geheimdienstchef der blauen Mannschaft, ich zuständig für die rote. Beide schauten wir auf eine Karte mit dem Schema für dieses Spiel: Jede der 25 Wortkarten stand für einen roten oder blauen Agenten, für einen harmlosen Unbeteiligten oder für den Attentäter. Nur wir wussten, welche Wortkarte wie belegt war. Unser Team musste es erraten.

„Ihr gebt uns Hinweise“, sagte meine Frau, „aber in jeder Runde nur ein einziges Wort. Und eine Zahl, die beschreibt, wie viele Karten auf dem Tisch mit dem Hinweis gemeint sind. Wenn etwa die Karten ‚Futter‘ und ‚Essen‘ diesmal für blaue Agenten stehen, könnte der blaue Geheimdienstchef das Wort ‚Nahrung‘ sagen, damit seine Leute das erraten. Wenn sie das tun, legt ihr Chef eine blaue Agentenkarte auf das richtige Wort, hier als Futter und Essen.“
„Und wenn sie falsch raten?“, fragte mein Cousin.
„Kommt drauf an“, sagte meine Frau. „Wenn sie statt auf einen ihrer Leute auf einen Unbeteiligten tippen, ist die andere Mannschaft dran. Wenn sie aus Versehen einen roten Agenten auswählen, legt man eine rote Karte auf das Wort. Wenn sie aber auf den Attentäter tippen, ist die Runde vorbei, und sie haben verloren.“
Was macht die Ente auf dem Bauernhof?
Ullrichs Team fing an. Er überlegte lange und sagte dann „Bauernhof vier“. Unser Sohn und mein Cousin tippten auf die Karten „Korn“ und „Hund“, aber als sie dazu noch „Ente“ rieten, war die Karte kein blauer Agent, sondern der Attentäter, und die Runde war vorbei. Ullrich meinte, dass eine Ente auf einem Bauernhof nichts zu suchen habe und dass es bei diesem Spiel auch um die Bereitschaft gehe, luzide Hinweise zu erkennen.
In der nächsten Runde war mein Cousin Geheimdienstchef. Als er „Belcanto zwei“ sagte, erriet Ullrich die Karte „Oper“ und unser Sohn die Karte „Ausdruck“. Meine Frau sagte „Facharztpraxis drei“, und wir errieten schnell, dass sich zwei unserer Agenten hinter den Karten „Verband“ und „Doktor“ verbargen. Für die dritte mussten wir lange überlegen. „Rasen“, meinte die Buchhändlerin, weil in ihrer Arztserie alle immer Golf spielen. „König“, sagte ich, aber die Buchhändlerin fand das unpassend. Ullrich hatte inzwischen die Sanduhr aus der Spielschachtel geholt und aufgestellt. Wir müssten uns entscheiden, bis aller Sand durchgelaufen sei, sagte er, sonst säßen wir hier noch Jahre und warteten.
„Warten“, sagte ich, „danke Ullrich! Das ist es!“ Meine Frau legte einen roten Agenten auf die Karte „Jahr“. Und ich brachte unseren Sohn ins Bett.
Spielekolumne „Einer wird gewinnen“
Einmal im Monat kommen die Freunde vorbei, um Gesellschaftsspiele zu testen: Brettspiele, Kartenspiele und auch solche, für die man nur Stifte, Zettel oder Würfel braucht. Wie diese Abende ablaufen, verrät unsere Kolumne „Einer wird gewinnen“ jeweils am letzten Montag des Monats.