Der Mann aus dem Süden des Gazastreifens, Yasser Abu Shabab, war in der Vergangenheit vor allem als Krimineller bekannt. Berichten zufolge saß er wegen Drogenschmuggels im Gefängnis. Das war vor dem Angriff der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Heute aber wird in internationalen Medien über ihn berichtet, er gibt sogar Interviews. Dem amerikanischen Fernsehsender CNN erklärte er unlängst, er führe im Gazastreifen „eine Gruppe von Bürgern“ an, die sich freiwillig gemeldet hätten, um humanitäre Hilfe vor Plünderung und Korruption zu schützen. Die „Volkskräfte“, wie er sie nennt, stehen in Opposition zur Hamas.
Tatsächlich ist seine Miliz vergleichsweise klein, Experten schätzen die Gruppe auf nicht mehr als 300 Männer. Sie soll mit Waffen aus Israel ausgestattet worden und in Rafah unter dem Schutz der israelischen Armee stehen – was Abu Shabab selbst allerdings bestreitet. Der israelische Sicherheitsexperte Meir Elran sagt, der Inlandsgeheimdienst habe Abu Shabab und seiner Gruppe Schusswaffen ausgehändigt – ein Vorgehen, das lediglich zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dem Verteidigungsministerium besprochen worden sei. Netanjahu räumte vergangene Woche die Bewaffnung eines palästinensischen Clans ein: „Was ist daran falsch?“, fragte er in einem Video. Durch die Aufrüstung von palästinensischen Kämpfern schütze man das Leben israelischer Soldaten.
Israels Geheimdienst sieht die Bewaffnung der Miliz als einen Test an
Doch viele Experten vermuten hinter der Bewaffnung von Shababs Clan in Gaza weitergehende Interessen Israels und beobachten die Entwicklung mit Sorge. Schon im November vergangenen Jahres, Monate bevor Israel sämtliche Hilfslieferung in den Gazastreifen stoppte, hatte es Medienberichte gegeben, denen zufolge israelische Soldaten in der Nähe von Rafah palästinensischen Kriminellen bei Plünderungen von Lastwagen freie Hand ließen. Diese Gruppen, so zitierte etwa die Washington Post ein internes Memo der Vereinten Nationen, rivalisierten mit der Hamas und könnten sich in einem von Israel eigentlich streng gesicherten Bereich ungehindert bewegen. Heute sagt etwa der Sicherheitsexperte Elran, auch Abu Shabab sei damals dabei gewesen. Er und seine Männer seien bisher vor allem mit Überfällen auf Lastwagen aufgefallen.
Dass die israelische Regierung ausgerechnet Plünderer unterstützt, ist besonders fragwürdig, weil sie in der Vergangenheit immer wieder den Diebstahl von Hilfsgütern als massives Problem beschrieben hat. Es diente als Rechtfertigung dafür, sämtliche Einfuhren von Nahrungsmitteln und anderen Produkten nach Gaza für mehr als zwei Monate zu untersagen. Bei den Palästinenserinnen und Palästinensern in Gaza hatte dies zu Hunger und katastrophalen medizinischen Zuständen geführt. Auch die Installation eines international umstrittenen privaten Dienstleisters, der Gaza Humanitarian Foundation (GHF), der in der Gegend um Rafah Nahrungsmittelpakete ausgibt, wurde von Israel ebenfalls damit begründet, dass man die Hamas daran hindern wolle, Waren abzuzweigen und teuer zu verkaufen.
Die Ausgabe von Lebensmittel durch die GHF war in den vergangenen Wochen immer wieder von Chaos und Schießereien begleitet worden, auch israelische Soldaten waren beteiligt. Dutzende Menschen starben bei dem Versuch, Lebensmittelpakete abzuholen. An mehreren Tagen musste die GHF die Ausgabe von Hilfsgütern ganz einstellen. An diesem Mittwoch gab die Stiftung bekannt, dass auch acht ihrer eigenen Mitarbeiter auf dem Weg zu einem Verteilzentrum bei einem Angriff auf einen Bus getötet worden seien. Sie macht die Hamas für den Anschlag verantwortlich.
Abu Shababs Miliz, so wird es in israelischen Medien berichtet, soll aktuell mit dafür sorgen, dass Waren sicher in Gaza ankommen und eben nicht geplündert werden. Die früheren Kriminellen werden zu Sicherheitsbeauftragten und sollen möglicherweise noch mehr Verantwortung übernehmen. Denn ursprünglich, so schreibt etwa die Zeitung Ma’ariv, habe der israelische Geheimdienst den Aufbau von Abu Shababs Gruppe als Pilotprojekt verstanden: als Test dafür, ob sich neben Hamas und der gemäßigteren Palästinenserpartei Fatah noch eine weitere Macht in einem begrenzten Gebiet innerhalb Gazas etablieren ließe. Eine mit guten Beziehungen zu Israel.
Yasser Abu Shabab stammt aus einer Beduinenfamilie, wenngleich sich seine Familie von ihm distanzierte. Dem israelischen Armeeradio sagte er, er pflege gute Beziehungen zum Dienstleister GHF, der schon große Mengen an Hilfsgütern in das von ihm kontrollierte Gebiet in Rafah geschickt habe. Allerdings seien seine Verbindungen zur Fatah und zum Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ebenso gut, er habe kein Interesse an einer politischen Spaltung.
Trägt Benjamin Netanjahu eine Mitverantwortung für das Massaker der Hamas?
Der Wissenschaftler Muhammed Shehada, der bei dem Thinktank European Council on Foreign Relations (EFCR) zu Gaza forscht, sieht Abu Shabab und seine Volkskräfte trotz dieser maßvollen Äußerungen kritisch. Zu den Mitgliedern der Gruppe gehörten auch zwei Männer, die in der Vergangenheit mit der Terrororganisation Islamischer Staat gekämpft hätten. Zudem sei ihr aktuelles Auftreten in der hochgesicherten und weitgehend zerstörten Stadt Rafah äußerst fragwürdig. Shehada sagt, die Miliz locke palästinensische Familien derzeit mit Hilfsgütern in den Süden und unterstütze so den israelischen Plan, die Bevölkerung in kleinen Gebieten des Gazastreifens zu konzentrieren. Vor knapp vier Wochen hatte die Armee eine entsprechende Großoffensive gestartet, die auch bei Verbündeten auf viel Kritik stößt.
Zudem ist es nicht das erste Mal, dass eine israelische Regierung Gruppen und Clans aus strategischen Gründen aufbaut – mit unkalkulierbaren Folgen. Auch die Hamas selbst hatte in der Vergangenheit massiv finanzielle Unterstützung erhalten, die von Israel gebilligt war. So steht schon lange der Vorwurf gegen Ministerpräsident Netanjahu im Raum, dass er die Hamas mit Geld aus Katar gestärkt haben könnte. Die Idee sei gewesen, Palästinenser, die im Gazastreifen und im Westjordanland leben, zu spalten, um die Chancen auf einen eigenen Staat zu sabotieren. Mit dem Geld habe die Hamas jedoch aufrüsten können und schließlich die Kapazitäten entwickelt, Israel im Oktober 2023 anzugreifen. Eine Untersuchung dieser Zusammenhänge und der Mitverantwortung Netanjahus für das Massaker, bei dem rund 1200 Menschen starben und 251 entführt wurden, steht noch aus.