
Elisa Senß: »Mich unterschätzen manche wegen meines Körpers.«
Foto:Matthias Hangst / Getty Images
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Vor dem Instagram-Profil der DFB-Frauen muss man sich am sogenannten Matchday -1 fast schon fürchten. Am Tag vor dem Spieltag, der oft auch Reisetag ist, haben sich die Social-Media-Manager darauf spezialisiert, Nationalspielerinnen mit Rollkoffern zu fotografieren. Eine nach der anderen zieht dann ihr Aluschalengerät durch irgendeine Hotellobby.
Gähnend langweilige Aufnahmen, aber offenbar Teil eines Sponsorendeals, muss also sein.
Dabei gibt es Material mit deutlich mehr Action, das die DFB-Frauen derzeit bei der EM in der Schweiz produzieren.
Elisa Senß brauchte beim zweiten Gruppenduell gegen Dänemark jedenfalls nur wenige Sekunden, um heißzulaufen und ihre erste Gegenspielerin von den Beinen zu holen. Kurz darauf eroberte sie einen Ball und faltete anschließend ihre Teamkolleginnen zusammen, damit sie sich bitte etwas mehr ins Zeug legen.

Senß gegen Harder
Foto: Stephane Mahe / REUTERSEs folgten viele weitere intensive Senß-Momente in diesem Spiel, die in Summe zwar kein Bewerbungsvideo für einen Job in einer Diplomatiebehörde ergeben hätten. Aber ein doch sehr anschauliches Vorstellungsportrait einer Spielerin, die es mit der Mission EM-Titel ziemlich ernst meint.
Senß, 27, ist eine der Schlüsselspielerinnen im DFB-Team. Sie muss die Lücke schließen, die durch den verletzungsbedingten Ausfall von Lena Oberdorf entstanden ist. Man könnte sagen: eine Zweikampfmaschine für eine andere. »Ich übernehme hier die Rolle des Abräumers«, sagt Senß über ihren Job bei der EM und grinst dabei.
Keine andere im deutschen Team foult bisher so oft wie Senß, keine geht so oft ins Tackling, keine andere erobert aber auch so viele Bälle wie sie.

Senß bei einer Pressekonferenz in Zürich
Foto: Hendrik Gräfenkämper / Jan Huebner / IMAGOBislang fiel der Ausfall Oberdorfs also nicht großartig ins Gewicht, doch die deutschen Auftaktgegner Polen und Dänemark waren auch nicht die Kaliber, auf die man bei dieser EM noch treffen wird. Am Samstag geht es gegen die starken und ebenfalls noch ungeschlagenen Schwedinnen (21 Uhr, TV: ZDF/Dazn, Liveticker SPIEGEL.de) um den Gruppensieg. Im bereits sicheren Viertelfinale könnten Europameister England oder das hoch gehandelte Frankreich warten.
Senß hat wie alle im Kader noch Potenzial nach oben, ihr Timing in den Zweikämpfen ist nicht immer perfekt. Dass sie gegen Dänemark bei ihren teilweise harten Aktionen ohne Gelbe Karte vom Platz ging, grenzte an ein Wunder.
Wobei sie das hinterher etwas anders bewertete. »Es ist immer ein schmaler Grat, wie ich ins Duell gehe, aber ich kann meine Füße und meinen Körper gut einsetzen«, sagte sie auf einer Pressekonferenz. »Ich empfand es daher als gerecht, dass ich keine Gelbe Karte bekommen habe.«
Das mag eine exklusive Sichtweise sein, aber dass sie weiß, was sie tut, kann man ihr nicht wegnehmen.
Sie arbeitete einst in der Unfallchirurgie
Lange Zeit arbeitete Senß neben dem Fußball als medizinische Fachangestellte in der Unfallchirurgie. Mit diesem Wissen weiß sie, wie man Gegnerinnen im Zweikampf schützt – oder außer Gefecht setzt. Bis auf eine blutige Nase bei der dänischen Stürmerin Amalie Vangsgaard ist jedoch noch niemand ernsthaft zu Schaden gekommen.
Es ist aber nicht so, dass sie nur für Härte steht (sie kann den Ball auch nach vorne bringen) und allein durch den Ausfall von Oberdorf in der Startelf steht. Mit starken Leistungen bei Eintracht Frankfurt hat sie sich diesen Platz erobert. Zudem vertrat Senß die am Kreuzband verletzte und bisher nicht voll wiederhergestellte Oberdorf bereits bei den Olympischen Spielen 2024, bei denen es Bronze gab.
Sjoeke Nüsken, die im zentralen Mittelfeld den offensiveren Part übernimmt, sagt außerdem, dass Senß die perfekte Partnerin für sie sei. »Sie hält mir den Rücken frei.« Oberdorf stürmte selbst ganz gern mit und vernachlässigte mitunter auch die Defensive.

Nüsken (links) und Senß: ein Duo, das sich versteht
Foto: Hendrik Gräfenkämper / Jan Huebner / IMAGOAls man Senß im deutschen Vorbereitungsquartier in Herzogenaurach vor der EM fragte, ob sie eine Profiteurin des Oberdorf-Ausfalls sei, guckte sie verdutzt und fragte: »Was ist eine Profiteurin?«
Es war nicht ganz klar, ob ihr der Begriff wirklich fremd oder ob es ein Scherz war. Als wollte sie damit sagen: »Ich stehe in der Mannschaft, weil ich gut bin.« Ende.
Lange Zeit spielte Senß versteckt unter dem Radar der größeren Fußballöffentlichkeit – in Meppen, Essen und bei Bayer Leverkusen. Durch ihren Job in der Unfallchirurgie konnte sie sich lange nicht voll auf den Fußball konzentrieren. Die Doppelbelastung führte dazu, dass sie Tage hatte, die von 6 bis 22 Uhr gingen. Oft stand sie müde auf dem Fußballplatz.
Wer ihren intensiven Stil sieht, weiß, dass sie alle Energie für ihr Spiel benötigt.
»Mir hilft es, mit 100 Prozent in ein Spiel zu gehen«, sagt sie. Sie glaubt, dass sie damit und aufgrund ihrer Körpergröße einige überraschen würde. »Mich unterschätzen manche wegen meines Körpers.« Sie seien dann erstaunt, wenn Senß, 1,61 Meter groß, Körper eher schmächtig, mit so viel Kraft spielt.
Noch bevor Senß 2023, im Alter von bereits 26 Jahren, ihr erstes Spiel für die Nationalmannschaft bestritt, war sie nur einem kleineren Publikum bekannt. Wobei: So ganz stimmt das auch nicht. Zusammen mit ihrem Freund Felix Casa drehte sie Videos, die in den sozialen Netzwerken mitunter viral gingen. Darin sah man Senß eher tricksen, beim Lattenschießen, aber nie grätschen – sie hat auch einen feinen Fuß.
Senß ist eine der besten Hinterlassenschaften von Hrubesch
Horst Hrubesch, Baujahr 1951, keine Social-Media-Profile, dürfte diese Videos nie gesehen haben. Als er Senß Ende 2023 zum ersten Mal in den DFB-Kader berief, sah der damalige Interimstrainer der Nationalmannschaft in ihr also mehr als eine Influencerin. Sie passte einfach perfekt zu Hrubeschs sehr defensiv ausgerichtetem Fußball.
Wenn man so will, ist Senß neben der Bronzemedaille bei Olympia die beste Hinterlassenschaft aus der knapp einjährigen Zeit unter Hrubesch.
Vielleicht zapft der DFB aber trotzdem noch einmal Senß' Social-Media-Qualitäten an, damit beim nächsten Reisetag nicht wieder langweilige Koffer durch die Kanäle rollen. Es gibt schließlich besseres Material.