Friedenspreis: Diese Bücher von Karl Schlögel sollten Sie kennen

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Bereits einige Jahre vor dem Fall des Eisernen Vorhangs machte sich Karl Schlögel – dessen Faszination für Russland bis in seine frühe Jugend zurückreicht – daran, Moskau zu erkunden. Und schon in seinem ersten Moskau-Buch mit dem Titel „Moskau lesen“ aus dem Jahr 1984 wird Schlögels unverwechsellbare Erzählweise erkennbar. Das „Moskauer Tagebuch“ des unorthodoxen Marxisten Walter Benjamin dürfte zu dieser Zeit nicht nur in erzählerischer Hinsicht Orientierung gegeben haben, war dies doch die Zeit, in der Schlögel den autoritären K-Gruppen-Kommunismus hinter sich ließ. Schlögels Blick auf die Stadt ist schon hier bestechend: In Spaziergängen erkundet er die Stadtviertel und liest alte Stadtpläne oder Telefonbücher, um die historischen Schichten der Stadt- und „Steinlandschaft“ freizulegen.

In „Terror und Traum – Moskau 1937“ aus dem Jahr 2008 rekonstruiert Schlögel mittels Verhörprotokollen, Memoiren oder Zeitungen den „Großen Terror“ des Stalinismus und führt den Lesern plastisch den Umbau jener damaligen Gesellschaft vor Augen. Die Abhandlung wurde oft als Meisterwerk gelobt. „Dieses Buch“, schreibt Schlögel, „kann nach den verschiedenen Stationen, die es durchwandert hat, keinen Schluss bieten, es hat keine These, die alles zusammenhält, sondern hält gerade dadurch das Rätselhafte fest, das Moskau 1937 bis heute von vielen anderen historischen Desastern unterscheidet.“

Im Vorwort zu „Das sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt“ aus dem Jahr 2017 resümiert Schlögel: „Russland hat mich nun ein Leben lang beschäftigt“. Für dieses inhaltlich opulente und meisterhaft erzählte Buch wird ihm 2018 der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch zuerkannt. „Der beschleunigende und entscheidende Impuls war Putins Annexion der Krim und der unerklärte Krieg gegen die Ukraine seither“, erklärt er im Vorwort zum Buch. 2014 hatte Schlögel wegen der Annexion die Puschkin-Medaille abgelehnt und 2015 gemeinsam mit der russischen Historikerin und Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakova die Bekenntnisschrift „Der Russland-Reflex – Einsichten in eine Beziehungskrise“ vorgelegt.

In „Das sowjetische Jahrhundert“ überzeugt Schlögel einmal mehr mit seiner nichtlinearen Erzählweise, die zwar von Leidenschaft durchdrungen ist, dabei jedoch jede Form von Nostalgie meidet. Und einmal mehr sind es die alltäglichsten Dinge, von denen ausgehend er wie ein Archäologe eine ganze Epoche entschlüsselt. Vermittels des Tattoos – in der Perestroika-Zeit eine Modeerscheinung geworden – kartographiert er den sozialen Raum. Ob Backpapier, Parfum oder ein Treppenhaus, überall findet er Paradigmatisches für seine überraschenden Analysen, die Empirisches mit persönlicher Erfahrung verbinden.

Zuletzt hat er sich, ebenfalls überraschend, der anderen Seite der Welt zugewandt. In „American Matrix – Besichtigung einer Epoche“ (2023) spürt er ideologischen und ästhetischen Gemeinsamkeiten zwischen den USA und der Sowjetunion nach. Wie schaut einer, der sein ganzes Leben lang den Osten und vor allem Russland erforscht hat, auf die andere Seite? Seine Perspektive auf die USA ist geprägt von der Frage, was für eine Gesellschaft entsteht oder was eine Gesellschaft hervorzubringen vermag, wenn sie keiner Tradition verpflichtet ist. Er betrachtet die amerikanische Gesellschaft wie ein Experiment – und letztlich ist das derselbe Blick, mit dem er auch auf Sowjetrussland schaute.

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