Freibrief für alles?: Das Comicmagazin „Charlotte“ will das neue „Charlie“ werden

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Neulich in Besançon, im mittlerweile dritten von mir dort besuchten Buchladen (die, wie in Frankreich üblich, alle große Comicabteilungen haben): Da liegt ein Band mit einer Parodie auf das Cover des „Tim und Struppi“-Albums „Der Sonnentempel“ als Umschlagmotiv. Das Original ist einer der großen Klassiker des frankobelgischen Comics, und die Parodie besteht darin, dass Bastien Vivès, ein grafischer Tausendsassa, zu dem es aber noch mehr zu sagen gibt (dazu später), die beiden stramm eingewickelten Indio-Mumien der Originalausgabe durch die Detektive Schulze und Schultze ersetzt hat, auch stramm eingewickelt, aber bis auf die für sie obligatorischen Melonen splitternackt – eine Bondage-Szene.

Das von Bastien Vivès gezeichnete Titelbild der mit Parodien bekannter Vorbilder gefüllten Sonderausgabe von „Charlotte“Das von Bastien Vivès gezeichnete Titelbild der mit Parodien bekannter Vorbilder gefüllten Sonderausgabe von „Charlotte“Revue Charlotte Mensuel

Den Band kannte ich nicht, und es führte ihn auch kein anderer Laden in Besançon (auch nicht das kurz danach noch aufgesuchte Comicfachgeschäft im Zentrum) oder irgendeine Verkaufsstelle, an der ich sonst jüngst in Frankreich war (und ich war an vielen). Warum nicht? Womöglich eine bloße Geschmacksfrage?

Oder doch eher eine Rechtefrage? Das Unternehmen Moulinsart als Rechteinhaber an „Tim und Struppi“ ist bekanntermaßen streitfreudig. Aber dann hätte es wohl auch dieser dritte Buchladen nicht gewagt, das Buch auszulegen. Zumal in Frankreich Artikel L122-5 des Gesetzes zum Schutz geistigen Eigentums ebendieses einschränkt, wenn die parodistische Absicht einer Übernahme zu erkennen ist und keine Verwechslungsgefahr mit dem Original besteht. Das ist hier gewiss der Fall: Nackte Menschen auf regulären „Tim und Struppi“-Umschlagbildern sind schlicht unvorstellbar.

Vom Reiz eines neuen Comicmagazins

Nicht, dass nun jemand dächte, ich beherrschte die französische Gesetzgebung. Die exakte Angabe jener Regelung, die verantwortlich dafür ist, dass Frankreich ein Dorado der Parodie und des Pastiches ist (besonders zu bemerken an den zahllosen Coverversionen bekannter Popsongs, die in anderen Ländern undenkbar wären), verdanke ich dem Vorwort jenes Buchs, das von einer gewissen Charlotte unterzeichnet ist. Und als „hors-série charlotte“ ist der Comic auch groß auf dem Umschlag ausgewiesen, also als Sonderband von etwas namens „Charlotte“, das ich auch nicht kenne. Aber das sollte sich bald ändern.

Umschlagmotiv der Debütausgabe von „Charlotte“, Oktober 2024, mit einer Figur von Chris WareUmschlagmotiv der Debütausgabe von „Charlotte“, Oktober 2024, mit einer Figur von Chris WareRevue Charlotte Mensuel

Denn beim Rausgehen, den obskuren Band unter dem Arm, stoße ich in einem bislang unbeachteten Display auf gleich mehrerer Nummern einer Zeitschrift, die den Titel „Charlotte mensuel“ trägt, also als Monatsmagazin deklariert ist. Und die erste Ausgabe, erschienen im Oktober 2024, bietet ein Titelbild von Chris Ware, einem meiner favorisierten Comicautoren: ein Mädchenporträt vor rosa Hintergrund, entnommen dem 2014 entstandenen Fortsetzungscomic „The Last Saturday“, der damals in 55 einseitigen Episoden auf der Website der englischen Zeitung „The Guardian“ erschienen ist, aber meines Wissens seitdem nie gedruckt wurde. Nun erfolgt das also in „Charlotte“, in jeweils achtseitigen Folgen, allerdings auf Französisch. Dennoch: Was für ein Coup für das Magazin! Was mag Ware dazu bewogen haben, nach derart langer Zeit die Genehmigung zu erteilen?

Ein Herausgeber mit Passion für Erotik

Vielleicht die Person des Herausgebers des Magazins. Vincent Bernière ist ein sechsundfünfzigjähriger Veteran der französischen Comicpublizistik, der unter anderem 2017 die traditionsreichen „Cahiers de la BD“ wiederbelebt hat und auch schon einmal Verleger der französischen Übersetzungen von Chris Wares Comics war. Darüber hinaus ist Bernières Liebe zu erotischen Comics vielfach dokumentiert, unter anderem durch seinen bisweilen auch pornographisch zu nennenden Bildband „Les 100 plus belles planches de la BD érotique“, erschienen 2015. Das legt eine frühe Spur zu „Charlotte“, der wir noch nachgehen werden (aber auch das erst etwas später).

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausDie Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

Seinen Titel verdankt das neue Magazin einer Nebenfigur aus Charles Schulz’ Jahrhundertcomicstrip „Peanuts“. Darin war noch relativ früh, im Herbst 1954, ein Mädchen aufgetreten, das Charlotte Braun hieß – also eine weibliche Version (man könnte auch sagen: Parodie) der Serien-Hauptfigur Charlie Brown. Nach nur elf Episoden wurde Charlotte Braun von Schulz im Januar 1955 aber schon wieder aus dem Ensemble gestrichen, angeblich als Resultat einer Leserumfrage. Eine verfemte Figur also, zugleich eine Parodie – was für eine Traumbesetzung als Namenspatronin für ein mutiges Comicmagazin!

Sex in „Charlotte“ statt Satire wie bei „Charlie“

Und zudem spielt die Bezeichnung des Magazins natürlich auf „Charlie Hebdo“ an, das aus traurigen Gründen weltberühmt gewordene Satiremagazin, das im Ruf steht, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Satirisch ist „Charlotte“ indes nicht, dafür stark – Bernières entsprechende Vorliebe lässt grüßen – sexlastig. Mag sein, dass Chris Ware, der in dieser Hinsicht als eher prüde gilt, das Heft, in dem „The Last Saturday“ läuft, nie gesehen hat. Kann auch sein, dass er sich seinem Verleger Bernière verpflichtet glaubt. Die rechte Umgebung für seine melancholische Geschichte um einen jugendlichen Prügelknaben in den Siebzigerjahren – große Ähnlichkeiten mit Ware selbst sind wenig überraschend – ist es nicht.

Das Mädchen auf dem Umschlag von „Charlotte“ Nr. 1 heißt natürlich gar nicht Charlotte, sondern Sandy. Dafür heißt die fiktive Autorin des Editorials sämtlicher Ausgaben (neben dem Sonderband sind es bislang acht Stück, die jüngste als Doppelnummer für die Monate Juli/August 2025) Charlotte – und natürlich verbirgt sich dahinter in Wahrheit Bernière. „Charlotte“ hat er gemeinsam mit Bastien Vivès ins Leben gerufen, als erste Comiczeitschrift-Neugründung in Frankreich seit dreißig Jahren, finanziert durch eine Kickstarter-Kampagne. Mit 13,90 Euro pro Ausgabe ist das Magazin dennoch teuer, wobei es jeweils zwischen 130 und 150 Seiten Comics gibt. Und die bieten eine bemerkenswerte Anzahl bekannter Zeichnerinnen und Zeichner.

Ein verrufenes Duo

Neben Ware sind aus Nordamerika die Kanadier Joe Matt und Seth vertreten, aus Frankreich die Altmeisterin Florence Cestac oder der undogmatische Winshluss. Mit Manuele Fior ist ein italienischer Star dabei, und regelmäßig sind japanische Mangaka vertreten, etwa Kazuo Takayama, Michiyo Matsumoto oder Shinishi Abe. Wenn das auch nicht gerade die erste Kategorie der Manga-Kunst ist, so sind mit dem Italiener Andrea Pazienza oder dem Franzosen Georges Pichard zwei namhafte Verstorbene zu nennen, deren Arbeit in „Charlotte“ dokumentiert wird. Aber das lässt stutzen, denn beide sind vor allem bekannt als Erotomanen mit einer gewissen Tendenz ins SM-Genre. Und dann sind da der schon mehrfach erwähnte Vivès und sein Landsmann Florence Ruppert, Ersterer ist wie Ware in bislang jedem Heft vertreten, Letzterer in fast allen – mit Science-Fiction-Erzählungen, die sich durch extreme Brutalität auszeichnen.

Diese Parodie auf die Trilogie „Bug“, das jüngste Werk von Enki Bilal, zeichnete der Argentinier Ciro Hernández alias Berliac.Diese Parodie auf die Trilogie „Bug“, das jüngste Werk von Enki Bilal, zeichnete der Argentinier Ciro Hernández alias Berliac.Revue Charlotte Mensuel

Mit diesen beiden hat es eine besondere Bewandtnis. Vivès kam Ende 2022 unter Beschuss wegen misogyner Kommentare, außerdem unterstellte man ihm einiger seiner Figuren wegen (vor allem der Hauptfigur aus seinem erfolgreichen Tänzerinnen-Comic „Polina“) päderastische Neigungen. Seine geplante Ausstellung beim Comicfestival von Angoulême wurde daraufhin abgesetzt. Ruppert wiederum kam nur wenige Monate später wegen des Vorwurfs sexueller Übergriffe ins Gerede. Darüber zerbrach seine jahrelange Kooperation mit dem Kollegen Jérôme Mulot; beide zusammen hatten als Duo Ruppert/Mulot firmiert und zu den innovativsten Elementen der französischen Comicszene gezählt. Bisweilen übrigens in Zusammenarbeit mit Vivès.

Je libertärer, desto besser

Ruppert und Vivès waren also das Ziel heftiger Angriffe anderer Comicautoren und des Publikums. Dass sie nun beide in „Charlotte“ derart prominent Platz eingeräumt bekommen, muss man als Stellungnahme von Bernière verstehen, dass er auf die Anwürfe nichts gibt. Tatsächlich wird in seinen mit „Charlotte“ gezeichneten Editorials immer wieder die Freiheit betont, die sich das Heft nehme, und es gibt mehr als nur Seitenhiebe auf die Kritiker von Vivès und Ruppert. Da passt es nur zu gut, dass sich das Heft auch der Dienste von Louis Paillard versichert hat, eines zeichnenden Freunds von Michel Houellebecq, der vor drei Jahren dessen Roman „Karte und Gebiet“ als Comic adaptiert hat und nun für „Charlotte“ bislang unbekannte Gedichte des Schriftstellers in jeweils kurze Bildsequenzen umsetzt. Einen plakativeren Libertin als Houellebecq hat die französische Kultur derzeit nicht zu bieten.

Alles weist also darauf hin, dass mit „Charlotte“ ein Comicmagazin geschaffen werden soll, das sich moralischen Skrupeln bewusst verweigert. Mit sichtlicher Zufriedenheit wird im Sonderband mit den Parodien erzählt, dass die darin vertretenen Dany und Yann mit ihrem Album „Spirou und die blaue Gorgone“ Ärger wegen frauenfeindlicher Darstellungen ausgelöst haben (an dieser Stelle schrieb ich vergangenes Jahr darüber, weil auch der deutsche Verlag den Band daraufhin aus dem Handel nahm). Das Veteranenduo hat für die Rückseite des Bandes eine gemeinsam erstellte Seite namens „Baston Labaffe“ aus dem Jahr 1983 zum Wiederabdruck zugelassen, die André Franquins berühmte Gagserie „Gaston Lagaffe“ parodiert, indem sie den chaotischen Büroboten zum Frauenschläger werden lässt, nachdem er sich bei diversen Annäherungsversuchen selbst Ohrfeigen zugezogen hat. Es darf gerne derb zugehen in „Charlotte“.

Bastien Vivès kommt sich sehr witzig vor in seiner Selbstrechtfertigung „La Vérité sur l’affaire Vivès“, die im Verlag von „Charlotte“ erschienen ist.Bastien Vivès kommt sich sehr witzig vor in seiner Selbstrechtfertigung „La Vérité sur l’affaire Vivès“, die im Verlag von „Charlotte“ erschienen ist.Revue Charlotte Mensuel

Vertreten sind im Sonderband aber auch Ralf König mit einer schwulen „Asterix“-Parodie und einmal mehr Chris Ware mit gleich fünf Nachdrucken aus der kürzlich publizierten dritten Sammlung seiner Skizzenbuch-Einträge, weil er darin französische Cartoonklassiker akribisch kopierte. Auch die vom dem mir zuvor unbekannten argentinischen Zeichner Berliac ausgeführte Parodie auf Enki Bilals Erzähl- und Zeichenstil ist grafisch ebenso kunstvoll geraten wie Morgan Navarros Version der „Peanuts“ – aber beide sind dabei auch höchst anzüglich, wie es überhaupt für die meisten Parodien in dieser Kollektion gilt. Den Vogel dabei schießt Vivès ab, der im Stil der erfolgreichen „Unerschrocken“-Serie, in der Pénélope Bagieu große Frauen der Geschichte vorstellt, eine Episode über Hitlers Geliebte Eva Braun gezeichnet hat. Er kann das Provozieren nicht lassen.

Hat schon recht, wer lautstark spottet?

Und das kann man auch der ersten Comicmonographie, die ein zugehöriger Verlag namens „Charlotte éditions“ herausgebracht hat, ablesen. Wieder ist es Vivès, der darin unter dem Titel „La Vérité sur l’affaire Vivès“ Hohn und Spott über diejenigen ausgießt, die ihn vor zwei Jahren kritisiert haben. Wie könne er, so heißt es in diesem schmalen Schwarz-Weiß-Comic, Päderast sein, wo er doch besonders gerne großbusige Frauen zeichne?

Der Vivès des Comics wird inhaftiert und unter mittelalterlichen Kerkerbedingungen mit abstrusen Vorhaltungen konfrontiert, doch seine Ankläger und deren Psychologen erweisen sich samt und sonders als unfähig. Selbstironie gibt es durchaus auch, doch sie steht im Dienst einer inszenierten Überlegenheit gegenüber den Kritikern – und wird somit zur Selbstgerechtigkeit. Das fasst gut zusammen, wessen Geistes Kind „Charlotte“ ist. Schade um diese erste Comicmagazin-Neugründung in Frankreich seit langer Zeit. Die Freiheit, die sie sich nimmt, sollte kein Freibrief für jegliche Form von Geschmacklosigkeit sein.

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