Frankreich: Drama um 20 Uhr: Premier Barnier warnt vor seinem Sturz

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In Frankreich ist keine politische Bühne prominenter als die des „Journal télévisé de 20 heures“. So heißen die Abendnachrichten um 20 Uhr auf den zwei großen Fernsehsendern des Landes, auf TF1 und France 2, es sind die Informationsformate mit den besten Einschaltquoten. Wer sich qua Amt oder Aura selbst in diese Sendungen einladen kann, ist besonders mächtig und hat bestenfalls eine wichtige Botschaft fürs Volk.

Michel Barnier, seit einigen Monaten erst französischer Premierminister, wählte am Dienstag die Primetime auf dem privaten Sender TF1 – für einen eindringlichen Auftritt. Es geht schon um alles, für ihn selbst und für seine Minderheitsregierung aus Zentristen und Konservativen. Die Opposition, also die Linke und die extreme Rechte, drohen damit, ihn sehr bald, vielleicht bereits in der kommenden Woche, mit einem Misstrauensantrag aus dem Amt zu kippen, wenn er seinen nach Brüssel versprochenen Sparhaushaltsplan für 2025 nicht noch revidiert. Massiv, sofort.

Frankreich ist die neuen Machtverhältnisse nicht gewohnt

Und so suchte Barnier die Flucht nach vorn, ins Studio des „20 heures“, um den Franzosen die Bedeutung des Moments und gleichzeitig die angebliche Unvernunft seiner politischen Gegner klarzumachen. „Wenn ich stürze“, sagte er, „und die Regierung endet – was passiert dann? Dann gibt es kein Budget, und wahrscheinlich gibt es dann schwere Turbulenzen an den Finanzmärkten.“ Ich oder das Chaos. Das zwischengeschobene „wahrscheinlich“ sollte wohl untergehen.

Ist Barniers Kabinett tatsächlich schon am Ende? Oder läuft nur ein kleines Powerplay der Parteien – ein Drama um nicht viel?

Seit den vorgezogenen Parlamentswahlen im vergangenen Juli ist das französische Abgeordnetenhaus, die Assemblée Nationale, ins Zentrum der Macht gerückt. Drei Blöcke stehen sich da recht unversöhnlich gegenüber, sie bestimmen die Agenda. Keiner der Blöcke hat Aussicht auf eine absolute Mehrheit, und keiner mag mit einem anderen koalieren, weil das nun mal nicht zur politischen Kultur der Fünften Republik gehört. Charles de Gaulles Verfassung von 1958 ist auf eine starke Exekutive ausgerichtet, verkörpert vom Präsidenten, die sich auf eine Mehrheit im Parlament stützt.

Barniers Regierung aus Macronisten und den rechten Républicains ist von den drei Lagern im Parlament knapp das größte: Mit ihren etwa 215 Stimmen ist es aber weit entfernt von einer Mehrheit; die liegt bei 289. Will Barnier nun also sein Budget für 2025 mit einer Abstimmung durchs Parlament bringen, ist er auf die Stimmen der extremen Rechten von Marine Le Pens Rassemblement National oder auf die der linken Wahlallianz des Nouveau Front Populaire angewiesen. Die Linke kommt aber nicht infrage, die steht total quer zu seinem Projekt – sie würde ja gern selbst regieren.

Le Pen steckt in einem Dilemma

Und Le Pen? Ihr gefällt die sehr rechte Migrationspolitik von Barniers Innenminister Bruno Retailleau, sie könnte von ihr sein. Sie hofft auch, dass Barnier das Wahlrecht ändert, wie er das in Aussicht gestellt hat: Mit der lange ersehnten Einführung eines Verhältnismodus anstelle des herrschenden Mehrheitsmodus rechnet sie sich bessere Chancen auf einen Parlamentswahlsieg aus. Nur: Barniers Budget gefällt ihrer Basis nicht. Vor allem die geplante neue Energiesteuer, die drei Milliarden Euro einbringen soll, verärgert sie. Für Le Pen ist diese Steuer deshalb eine „rote Linie“, neben anderen. Eine Umfrage zeigte, dass zwei Drittel ihrer Wähler es begrüßen würden, wenn Le Pen ihre stille Duldung der Regierung aufgäbe und den Premier stürzte.

Dennoch steckt Le Pen in einem Dilemma. Barnier hat recht, wenn er vor der Gefahr einer budgetären Unvernunft warnt. Frankreich hat so hohe Staatsschulden wie noch nie, 3228 Milliarden Euro, und das Defizit ist erneut immens. Mit seinem Budget 2025 will Barnier 60 Milliarden Euro reinholen: etwa ein Drittel davon über neue Steuern, zwei Drittel über Kostensenkungen in der Verwaltung. Das ist nicht populär. Frankreich tat sich schon immer schwer mit Sparen, der letzte ausgeglichene Etat liegt fünfzig Jahre zurück. Die Populistin Le Pen versucht seit ein paar Jahren, die Wirtschaftswelt von ihrer Glaubwürdigkeit zu überzeugen – mit einigem Erfolg. Lässt sie Barnier nun fallen, droht ihr politisches Kapital wieder zu schwinden. Und sie würde mit diesem Manöver vielleicht der Linken zur Macht verhelfen.

Konkret ist folgendes Szenario möglich: Barnier winkt das Budget ohne Abstimmung durch, mit einem Exekutivdekret, dem sogenannten 49.3. Die Linke stellt darauf einen Misstrauensantrag gegen die Regierung. Stimmen die Lepenisten zusammen mit den Sozialisten, der radikal linken La France insoumise, den Grünen und den Kommunisten gegen Barnier, dann ist dessen Sturz besiegelt. Und Emmanuel Macron müsste eine neue Regierung finden. Eine linke diesmal? Eine technokratische aus parteilosen Experten? Oder ein Barnier II mit umgebildetem Kabinett? Nach der Parlamentsauflösung im vergangenen Juni sind Neuwahlen frühestens wieder im kommenden Sommer möglich.

Was ein schnelles Ende von Barniers Regierung für das Budget und für Frankreichs Schuldzinsen bedeutet, kann niemand so genau sagen. Macron hält das Szenario aber für sicher. Am Rand einer Zeremonie im Wintergarten des Palais de l’Élysée sagte der Präsident laut der stets gut informierten Zeitung Le Parisien zu Vertrauten und früheren Minister: „Die Regierung wird fallen. Le Pen wird sie stürzen, irgendwann – früher, als man denkt.“ Danach machte sich Michel Barnier auf ins Studio des „20 heures“.

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