Hildegard Knefs „Irritierte Auster“ hat, was jede gute Auster haben muss. Nämlich: es – und zwar in sich! Man könnte auch sagen, diese „Irritierte Auster“ habe es faustdick hinter den Ohren. Das geht jetzt aber zu weit, werden Sie einwenden, denn seit wann haben Austern Ohren? Diese Auster schon. Sie ist ohne Ohren nicht zu denken. Sprechen, Hören, Denken bilden bei der Auster à la Knef, um es mit bildungsphilosophischem Chic der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts zu sagen, einen „Gestaltkreis“.
Geschrieben hat Knef „Jene irritierte Auster“ für sich selbst, um das Gedicht als Chanson zu singen. Hans Hammerschmidt, der ihr auch den Hit „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ komponierte, hat „Jene irritierte Auster“ nicht nur mit einer extra dry Eiswürfelklavierbegleitung versehen, sondern die metrisch-prosodischen Pointen des Textes musikalisch noch einmal eigens herausgekitzelt. Die liegen freilich schon in Knefs artistischer Sprache selbst.
„Jene irritierte Auster“ schreibt das Genre des tragikomischen Weichtiergedichts fort, zu dem der Komponist Erik Satie mit seinem Klavierzyklus „Krustentiere“ wortlos, der Dichter Joachim Ringelnatz vierzig Jahre vor Knef wortschön beigetragen hatte: „Wenn du einen Schneck behauchst / Schrumpft er ins Gehäuse. / Wenn du ihn in Kognak tauchst, / Sieht er weiße Mäuse“. Doch Knef geht es nicht nur um den wirbellosen Inhalt. Die Form folgt ihm. Ihre „Irritierte Auster“ ist ein weitgehend reimfreies Gedicht in freiem Vers, wie er besonders von den symbolistischen Dichtern jenes Landes gepflegt wurde, dessen Küche die Auster am meisten schätzt: Frankreich. Nun haben diese Dichter Frankreichs, allen voran Camille Mauclair und Stéphane Mallarmé, immer wieder betont, dass ihnen die Inspiration zum freien Vers, dem vers libre, aus der romantischen Musik Deutschlands, namentlich jener Robert Schumanns, über den Rhein schwappte.
Ein Ausschnitt der besseren Gesellschaft
Mit Schumanns unregelmäßigem Phrasenbau und mit seiner Technik des Herauszögerns und Verunklarens der Grundtonart hat Knefs Gedicht wieder viel zu tun: Sie zögert die syntaktische Vervollständigung ihrer Sätze lange hinaus, wobei die Vervollständigung selbst durch allerlei verzögernde Einschübe jeweils zur Pointe gerät. „Jene irritierte Auster“ ist ein schumannesker Anfang ohne festen Grund. Allein das „jene“ tut schon so, als müssten wir diese Auster von früher kennen. Damit sind wir sofort wie sie: irritiert.
Nun ist Knefs Gedicht, rein inhaltlich, eine satirische Skizze über das In-, Mit- und Gegeneinander von biologischer und sozialer Reproduktion. Der irritierten und wohl auch etwas verklemmten Auster Numero eins misslingt zwar die biologische Reproduktion, dafür gelingt ihr aber der soziale Aufstieg zur Perle, die dann im Ausschnitt einer Dame aus besserer Gesellschaft landet. Die „ganz und gar und stets zufriedene Auster“ Numero zwei pflanzt sich ohne Statussprung fort und wird von einem sozialen Underdog weggeputzt: einem Produzenten in einem nicht besonders bildungsnahen Massenmedium namens „Fernsehen“, er selbst dazu noch „ohne Abitur“. Nicht einmal leisten kann er sich die schlüpfrige Meeresfrucht. Er speist „auf Spesen“, also auf Rechnung der Gebührenzahler.
Der Ort des Austernfrühstücks ist die letzte Pointe des Gedichts: Travemünde ist vom Atlantik so weit entfernt wie das Vermögen des Kurhotelgastes vom habituellen Austernverzehr. Die deutsch-französische Kultursymbiose, poetisch wie gastronomisch, schreibt sich fort. Wobei man Knef gewisse Sympathien für die Ostsee unterstellen darf, wenn man von ihr gesungene Zeilen wie diese als Argument gelten ließe: „Gib mir noch einmal den Strand meiner Kindheit, / mit Muscheln und Bernstein auf trockenem Weiß. / Gib mir den salzigen Wind meiner Ostsee, / das Jammern der Möwe, die hoffnungsvoll kreist“.
Der freie Vers kennt kein festes Metrum. Doch das Wort „Auster“ gibt das Maß des tropfenden Trochäus vor. In der zweiten Strophe zeigt sich Knefs besondere Durchtriebenheit: „Und jene einz’ge Tochter, früh verwaist, geboren aus der Unzufriedenheit“. Die „Unzufriedenheit“ tanzt aus der Reihe. Es sind ein paar Silben zu viel. Und Knef hat beim Singen des Textes gern einen prosodischen Haken auf „Unzu“ eingebaut. Der austernde Trochäus, der uns in der ersten Gedichtzeile eingeprägt wird, baut die Erwartung auf, die Zeile enden zu hören mit „geboren aus der Unzucht“. Doch gerade die biologische wie die soziale Zucht lässt ja aus der Auster eine Perle werden.
Die „Unzufriedenheit“, in der die „Unzucht“ als das sich selbst Missgönnte anklingt, ohne ausgesprochen zu werden, ist von delikater Dialektik. Denn die Zucht, die zum sozialen Aufstieg führt, zeugt jene Unzufriedenheit, die übers Maß hinauswuchert. Entsprechend wird die glückliche Auster – Symbol für Status und Sex, Lust und Luxus – vom unzüchtigen Genießer beim außerehelichen Techtelmechtel „mit seiner Freundin“ vernascht.
Knef dichtete über ihre Geburt am 28. Dezember 1925 in Ulm: „Ich kam im tiefsten Winter zur Welt, / hab’ dreimal geniest, mich müde gestellt, / der Vater war wütend, er wollt’ einen Sohn, / ich sah mich so um und wusste auch schon: / von nun an geht’s bergab“. So etwas über sich selbst zu dichten und zu singen – das muss man sich leisten können. Hildegard Frieda Albertine Knef wusste zwischen lauter Aufstiegen und Abstürzen, was sie wert war. Und „Jene irritierte Auster“ ist, was sonst, eine Perle.
Wie alle Liedtexte von Hildegard Knef zu finden unter: www.hildegardknef.de.
Redaktion Hubert Spiegel
Gedichtlesung Thomas Huber

vor 3 Stunden
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