Filmklassiker „Scrooge“: Der Engherzigste von allen

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Der Erfinder von Weihnachten heißt Charles Dickens. So falsch dieser Satz religionsgeschichtlich ist, so sehr trifft er in der Geschichte der Einbildungskraft zu. Lange Zeit wurden nämlich die Heilige Nacht und der Tag danach vor allem in den Kirchen und auf Märkten gefeiert. Erst im neunzehnten Jahrhundert beginnt Weihnachten ganz ein Familienfest zu werden. Es gibt Geschenke für die Kinder, es gibt ein Festessen. 1816 veröffentlicht E.T.A. Hofmann „Nußknacker und Mausekönig“ mit dem geschmückten Tannenbaum in der Mitte der Wohnung, und von 1822 an verbreitet sich im angloamerikanischen Sprachraum das Gedicht „‘Twas the Night before Christmas“, mit einem von Rentieren gezogenen Schlitten und dem Bild des durch die Kamine einsteigenden, gemütlich aussehenden Weihnachtsmanns.

Die „Weihnachtsgeschichte“ („A Christmas Carol“) von Dickens, die 1843 herauskommt und sofort ein großer Erfolg wird, ändert alles. Denn nicht nur insistiert Dickens, dass, wenn es wirklich fröhliche Weihnachten sein sollen, alle Geschenke erhalten müssen und für alle ein Festessen aus­gerichtet werden muss. Er erklärt überdies Weihnachten zum wichtigsten Fest überhaupt, zur entscheidenden Nacht, zur Nacht eines Dramas.

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In die Krise gerät in der ersten berühmten Verfilmung von 1951, die zumeist nahe am Text der Novelle bleibt, der von Alastair Sim unvergesslich gespielte Geldverleiher Scrooge, für den Weihnachten „Humbug“ ist. Feiern? Humbug. Singen? Humbug. Freizeit? Humbug. Das Wort war hundert Jahre zuvor in England aufgekommen. Sim lächelt grimmig, wenn er auf seine Nächsten angesprochen wird. Zwei Börsenhändler, die um ein ­Almosen für Bedürftige bitten, weist Scrooge mit der Frage ab: „Gibt es keine Gefängnisse, keine Arbeitshäuser?“ Er glaubt nicht an Gefühltes, sondern an Profite, er ist ein Utilitarist – dieser Humbug war soeben erst erfunden worden –, dem das ganze Getue um Weihnachten auf die Nerven geht, nicht zuletzt, weil der Feiertag ihn Geld kostet. Ihm fehlt die Wärme, für die Weihnachten steht, gerade weil es mitten in den Winter fällt.

Seine Herzenshärte unterdrückte die Erinnerung ans eigene Unglück

Die Krise des kalten Materialisten kommt mit den Gespenstern. Scrooge hat Visionen. Er sieht im Türknauf seinen verstorbenen Teilhaber, dieser sucht ihn als unerlöste Seele heim. Zunächst denkt Scrooge, ganz Bentham, an schlecht verdautes Rindfleisch als Auslöser der Geschichte. Aber es sind Zwischenwesen, die daran verzweifeln, keine Macht über die Menschen zu haben. Die Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht treten auf. Sie führen ihm vor, dass er einst anders war, nämlich verliebt. Seine Herzenshärte unterdrückte die Erinnerung ans eigene Unglück. Sein Leben fürs Geschäft ist das, was übrig blieb, als nicht das Glück ihn, sondern er das Glück verließ. Dazu erfindet Drehbuchautor Noel Langley die Figur des Geschäftsmanns Jorkin, die es bei Dickens nicht gibt, bei dem der junge Scrooge den rücksichtslosen Egoismus lernt. Das nächste Gespenst führt ihm vor, wie Weihnachten von denen gefeiert wird, deren Existenz bedroht ist, und von denen, die sich um die Armen kümmern. Das dritte schließlich zeigt ihm, wie die Zukunft der Unglücklichen, die ihm gleichgültig sind, aussehen wird, und wie seine eigene Zukunft, nämlich nicht betrauert und nicht erinnert zu sterben.

Darauf erfolgt der Zusammenbruch. Und die plötzliche Konversion. Sie beruht auf Erschütterung. „Ich bin nicht der, der ich war.“ Aus dem Alten macht sie ein Kind, was der zutiefst eng­lischen Tradition entspricht, dass das Gute die Rückkehr zur kindlichen Unschuld ist. Scrooge bricht in ausgelassenes Gelächter aus, „ich bin ­federleicht“, tanzt, macht im Sessel einen Kopfstand, achtet kein bisschen mehr auf Haltung, umarmt die erschrockene Haushälterin, verfünffacht ihren Lohn, schickt der Familie seines Angestellten den größten Truthahn, von dem es bei Dickens heißt, er sei so fett, dass er kaum aufrecht hätte gehen können. Das ist Weihnachten, es ist ein Exzess, der in die Kälte einbricht. ­Dickens sagt nicht „Du musst dein Leben ändern“, er sagt „Du kannst dich sofort zum Leben befreien“. Umsturz ist möglich.

Nach dem Film von 1951 folgten viele andere, das Musical mit Albert Finney von 1970 ­beispielsweise. „Scrooged“ hatte 1988 Bill Murray als einen Fernsehproduzenten zum Titel­helden, aber man fragte sich, wozu. „Disneys Weihnachtsgeschichte“ von 2009 trat mit be­eindruckender Besetzung an (Jim Carey, Gary Oldman, Colin Firth), übertrieb es aber mit der Technik, die alle Schauspielerbewegungen auf computeranimierte Figuren übertrug. Wenn alles ein Spuk ist, verblassen die Gespenster. Bei weitem weihnachtlicher war „Die Muppets Weihnachtsgeschichte“ von 1992, mit Michael Caine als Scrooge – „Der Dezember ist der Monat der Zwangsvollstreckungen“ – und Puppen für die meisten anderen Figuren, außerdem mit sprechenden Melonen und singenden Trauben, Rizzo der Ratte, Kermit als armem Angestellten und Gonzo als Charles Dickens. Die Lieder sind so ­lala, aber der gesprochene Text entschädigt ein wenig: „Dunkelheit kostet nichts, darum liebte er sie.“ Nach neunzig Jahren seit dem ersten Tonfilm kehren wir zu Alastair Sim zurück. Kein ­anderer Scrooge war engherziger als seiner, und keiner drehte schöner durch, als er sich von seinem Geiz befreit sah.

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