Tottenham gewinnt Europa League Großer Triumph – oder doch nur Trost?
Im Duell der Verzweifelten schlägt Tottenham Hotspur im Europa-League-Finale Manchester United. Dafür gibt es trotz einer Höllensaison einen Platz in der Königsklasse – und sehr viel Geld. Trotzdem bleibt große Ungewissheit.
22.05.2025, 00.07 Uhr

Tottenham Hotspur: Erster Europapokalsieg seit 41 Jahren
Foto:Thomas Coex / AFP
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Szene des Spiels: Satte 40 Meter legte der Ball vom Mittelkreis aus in hohem Bogen zurück, ehe er im Strafraum herunterkam. Eigentlich eine harmlose Freistoßvariante, denn Tottenham-Torwart Guglielmo Vicario kam vor, um den Ball aus der Luft zu fischen. Doch dem Italiener flutschte der Ball durch die Finger und ins Gesicht, den Abpraller wiederum köpfte Manchester Uniteds Rasmus Højlund aufs leere Tor, es wäre der Ausgleich gewesen – wäre da nicht Micky van de Ven. Der Niederländer hob ab und kickte den Ball mit einer akrobatischen Flugeinlage von der Linie zurück ins Feld (68.).
Not gegen Elend: Für ein Europapokalfinale zwischen zwei so namhaften Klubs trug die Paarung einen verzweifelten Unterton. Sowohl United (aktuell Platz 16) als auch die Spurs (Platz 17) erleben die schlechteste Premier-League-Saison ihrer jeweiligen Historie. Weit entfernt von der Qualifikation für die Champions League, geschweige denn vom Titelkampf, stattdessen direkt vor den Abstiegsplätzen – und das als stolze Mitglieder der englischen »Big Six«. Die Europa League war für beide Klubs die letzte Hoffnung, die Saison nicht als Super-GAU zu beenden.
Die erste Hälfte: War schwer zu ertragen. Die Spurs kamen ein paar Mal lauwarm in den Strafraum, für United schoss Amad Diallo knapp vorbei (16.), ehe RTL-Kommentator Marco Hagemann innerhalb von zwei Minuten die beiden Sätze entglitten: »Es ist abgeflacht.« Und: »Es ist zerfahren.« Dann stolperten aber Brennan Johnson und United-Verteidiger Luke Shaw eine Flanke ins Tor von Manchester (42.), und alle waren wieder wach.

Rettung per Karatekick: Micky van de Ven
Foto: Andrew Couldridge / REUTERSChefsache: Seit dem Abgang von Harry Kane zu den Bayern ist dessen Ex-Sturmpartner Son Heung-min der beste Spieler und Kapitän der Mannschaft, der Mann für die großen Momente. In der Startaufstellung für das wohl wichtigste Spiel der jüngeren Vereinsgeschichte fehlte der Koreaner aber, weil er nach einer Fußverletzung noch nicht in Wettkampfform war. Nach seiner Einwechslung (67.) bot sich Son eine gute Gelegenheit zum 2:0, bei der ihm aber der Antritt fehlte. Eine weise Entscheidung von Spurs-Trainer Ange Postecoglu, seinen angeschlagenen Superstar vorerst draußen zu lassen.
Die zweite Hälfte: In Rückstand drückte Man United stärker und hätte ohne Van de Vens Rettungstat (68.) auch ausgeglichen, weitere Chancen vergaben Bruno Fernandes per Kopf (72.) und Alejandro Garnacho (74.), gegen den Vicario seinen Slapstick-Move wiedergutmachte. Eine hitzige Schlussphase entbrannte, in der Tottenham verzweifelt verteidigte und sich erneut auf Vicario verlassen konnte, der in der 7. Minute der Nachspielzeit zu einem gefährlichen Kopfball von Shaw abtauchte und den Sieg bewahrte.
Der besiegte Fluch: Das Leiden hat ein Ende für alle, die es mit Tottenham Hotspur halten. Die Jahrzehnte voller Häme darüber, dass es doch eh nie zu einem Titel reichen würde für die scheinbar verfluchten Spurs. Schluss damit: Zum ersten Mal seit 2008 (Ligapokal) hält der Klub aus Nordlondon eine Trophäe in der Hand – noch länger war die Wartezeit auf einen Europapokal. Zuletzt hatten die Spurs 1984 den Vorgängerwettbewerb Uefa Cup gewonnen.

Ungewisse Zukunft trotz Titel: Ange Postecoglu
Foto:Manu Fernandez / AP / dpa
Der Seiltänzer: Was macht man jetzt mit diesem Trainer? »Normalerweise gewinne ich in meiner zweiten Saison etwas«, hatte Postecoglu zu Saisonbeginn noch vollmundig angekündigt, dann entgleiste die Spielzeit komplett, zumindest in der Liga. Jetzt hat der knochige Australier aber sein Versprechen eingelöst, dabei seinem Klub den ersten Titel seit 17 Jahren – und eine saftige Finanzspritze beschert. Das war weder Mauricio Pochettino, José Mourinho noch Antonio Conte gelungen. Ohne den Finalsieg wäre Postecoglus Entlassung wohl unausweichlich gewesen, jetzt dürfte die Entscheidung nicht mehr so leicht fallen.
C.R.E.A.M.: 100.000.000 Euro. Eine eins mit acht Nullen, ungefähr so viel Geld hätte Manchester United laut einer Rechnung von »The Athletic« durch eine Champions-League-Qualifikation gewunken. Für Tottenham Hotspur fällt die Kalkulation wohl in ähnlicher Höhe aus. Beide Finalisten sind europäische Großklubs, in ihrer wirtschaftlichen Struktur angelegt auf die Teilnahme an europäischen Wettbewerben, idealerweise der Champions League. Für den einen gibt es jetzt die unverhoffte Rettung, für den anderen ist die Katastrophe perfekt.
Grüße vom Ex: Von 2009 bis 2023 hatte Harry Kane bei Tottenham gespielt, ehe er vor zwei Jahren zum FC Bayern wechselte, ohne jemals einen Titel mit den Spurs gewonnen zu haben. Erst in dieser Spielzeit durfte der Stürmer mit der Meisterschaft seine erste Trophäe halten, und ausgerechnet im selben Jahr endet jetzt auch die Durststrecke seiner alten Liebe. »Congratulations«, schrieb Kane bei Instagram an Tottenham gerichtet. Dort dachte man auch an ihn: »Was soll ich sagen? Harry, wir haben auch den Pokal gewonnen«, sagte Son nach Abpfiff bei RTL.