Der 33-jährige belgische Energieminister Mathieu Bihet hat eine Vorbildung als Jurist, aber seine politische Leidenschaft gilt der Kernenergie. Er war elf Jahre alt, als Belgien am 31. Januar 2003 den Ausstieg aus der Kernenergie für das Jahr 2025 beschloss. Es war, rückblickend betrachtet, ein schwarzer Tag für ihn.
Bihet, der der französischsprachigen liberalen Partei MR angehört, kämpfte in den vergangenen Jahren als Parlamentarier derart massiv für die Aufhebung dieses Beschlusses, dass die belgischen Grünen ihm den Namen „Atomic Boy“ verpassten. Bihet trug ihn mit Stolz. Nun, als Minister, hat der Atom-Junge sein Ziel erreicht.
Vergangene Woche beschloss das belgische Parlament ein Gesetz, das seinen Namen trägt: „Loi Bihet“. Es besiegelt den Ausstieg aus dem Atomausstieg und wurde mit großer Mehrheit verabschiedet. Bihet feierte seinen Sieg als „historisch“ und will nun dafür Sorge tragen, dass er weit über seine Amtszeit hinaus in Erinnerung bleibt.
Die alten Kraftwerke sollen weiterlaufen – und neue dazukommen
„Die neue Kernenergie ist eine Vision für die nächsten 80 oder 100 Jahre“, sagt der Minister. Diese Vision umzusetzen ist allerdings so kompliziert und so teuer, dass Skeptiker in Belgien prophezeien, sie werde spätestens bei der nächsten Parlamentswahl im Jahr 2029 schon wieder zu den Akten gelegt.

Die seit Februar dieses Jahres regierende Regierungskoalition unter dem konservativen Premierminister Bart De Wever hat sich ausdrücklich der Kernkraft verschrieben. Treibende Kraft dahinter ist Bihets liberale Partei. Von den bestehenden Kraftwerken sollen Kapazitäten in Höhe von vier Gigawatt erhalten bleiben, durch neue Kraftwerke sollen zusätzlich noch einmal vier Gigawatt hinzukommen. Die Pläne für den Ausbau erneuerbarer Energien blieben unangetastet, sagt der Minister. Aber die Kernkraft müsse einen Platz im belgischen Energiemix behalten, andernfalls könne das Land nicht klimaneutral werden.
Belgien hat ursprünglich zwei Kernkraftwerke mit insgesamt sieben Reaktoren betrieben – vier in Doel in der Nähe von Antwerpen und drei in Tihange, etwa eine Autostunde von Aachen entfernt. Zwei Reaktoren wurden schon 2023 stillgelegt. Betriebsgenehmigungen über 2025 hinaus gibt es nur noch für zwei: Doel 4 und Tihange 3. Unter dem Eindruck der Energiekrise nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurden deren Laufzeiten um zehn Jahre bis 2035 verlängert, auf Betreiben der damaligen grünen Energieministerin.
Selbst die Betreiberfirma aller belgischen Reaktoren hält die Pläne für einen Fehler
Ohne Doel 4 und Tihange 3 hätte Belgien schon im nächsten Winter ein Problem, die Energieversorgung des Landes sicherzustellen, sagt Minister Bihet. Allerdings kostet es eine Menge Geld, die beiden Reaktoren so aufzurüsten, dass sie eine neue Betriebsgenehmigung erhalten. Der belgische Staat muss dafür wohl mindestens zwei Milliarden Euro investieren – das hat sich der Energiekonzern Engie ausbedungen, seit den Siebzigerjahren Betreiber sämtlicher belgischer Reaktoren. Die Konzernführung gibt immer wieder zu erkennen, sie wolle mit der Kernkraft nichts mehr zu tun haben und sehe ihre Zukunft in den Erneuerbaren.
Möglicherweise habe der Konzern eine „Erpressungsstrategie“ verfolgt, sagt Minister Bihet. Er wird sich demnächst selbst mit dem belgischen Engie-Chef Vincent Verbeke an einen Tisch setzen, nachdem er sich zuletzt über die Medien mit ihm gestritten hat. Als „unverantwortlich“ bezeichnete Bihet Äußerungen Verbekes, die Atompläne der neuen Regierung seien ein strategischer Fehler. Es gehe nicht an, sagt der Minister, dass ein Quasi-Monopolist wie Engie aus Eigennutz demokratische Entscheidungen infrage stelle und dadurch die Energiesicherheit Belgiens gefährde.
Der Minister ließ in einem Interview mit der Zeitung L’Echo erkennen, dass er sämtliche sieben Reaktoren für eine Laufzeitverlängerung in Betracht zieht – sogar die beiden, die schon rückgebaut werden. Er erwarte nun eine Bestandsaufnahme über den Zustand sämtlicher Reaktoren und die möglichen Kosten einer Aufrüstung. Dann könnten Verhandlungen beginnen.
Nebenan in Deutschland sind manche besorgt
Die belgischen Pläne sorgen für Unruhe im benachbarten Nordrhein-Westfalen, wo viele Menschen – vor allem in der Region Aachen – Angst haben vor den zum Teil fünfzig Jahre alten belgischen Meilern. Selbstverständlich respektiere man die Entscheidung Belgiens, sagte der grüne Umweltminister Oliver Krischer. Am wichtigsten sei ohnehin, dass die als baufällig bekannten Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 schon stillgelegt wurden. Krischer nannte sie „Riss-Reaktoren“. Falls nun Reaktoren wieder aufgerüstet würden, dürfte es keine Abstriche bei den Sicherheitsstandards geben.
Unbeeindruckt von den Nachrichten aus Belgien gab sich der neue Bundesumweltminister Carsten Schneider von der SPD. Deutschland werde nicht abrücken vom Ausstieg aus der Atomkraft, sagte er. Es gebe einen gesellschaftlichen Konsens darüber, und die Beschlusslage der neuen Regierung in Berlin sei klar. Atomkraft sei „wahnsinnig teuer“, die deutsche Energie der Zukunft dagegen sei grün und dadurch billiger.
Minister Schneider wäre wohl nicht traurig, wenn der belgische Kollege sich nun eine blutige Nase holt bei seinem Feldzug für die Kernenergie in Belgien. In etlichen europäischen Ländern riefen Regierungen zuletzt eine Renaissance der Kernkraft aus, doch es fehlt häufig an Investoren.
Das nach ihm benannte Gesetz sei eine „unglaubliche Visitenkarte“ für die Gespräche mit potenziellen Geldgebern, glaubt der belgische Minister Bihet. Er schließt für Belgien keine neue Technologie aus, weder kleine modulare Reaktoren noch Druckwasser-Reaktoren modernen Typs wie im französischen Flamanville oder in Hinkley Point, Großbritannien – trotz der Schlagzeilen um Verzögerungen beim Bau und massiven Kostensteigerungen.
In belgischen Medien diskutiert man nun, ob Investoren ausgerechnet in diesem Land solche aufwendigen Technologien vorantreiben wollen. Belgien gilt als föderal zersplittert und notorisch reformunfähig, es gibt wenig Kontinuität im staatlichen Handeln. So kam es, dass sich nach dem Ausstiegsbeschluss des Jahres 2003 keine der folgenden Regierungen ernsthaft um Alternativen zur Kernenergie kümmerte.