
Schweizer Jubel nach dem dramatischen Weiterkommen gegen Finnland
Foto: Alessandra Tarantino / APDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Schweizer Fußballgeschichte: Die Nachspielzeit hatte begonnen, und im Genfer Stadion herrschte nervöse Anspannung. Knapp 80 Minuten lang hatte alles gut ausgesehen für ein Schweizer Weiterkommen, doch ein finnischer Elfmeter hatte dem gemütlichen Spaziergang unter die letzten Acht einen Strich durch die Rechnung gemacht. Apropos: Ein Strich war auch Géraldine Reutelers Hereingabe in den Strafraum. Wie an der Schnur gezogen zischte der Ball an Mit- und Gegenspielerinnen vorbei, bis er mit der Fußinnenseite der eingewechselten Riola Xhemaili die perfekte Addressatin fand. Xhemaili ließ die Kugel aus fünf Metern ins Tor tropfen, und Genf eskalierte (90.+2 Minute). Es war die buchstäbliche Rettung in letzter Minute, die das Schweizer Sommermärchen verlängerte. »Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Wir haben Geschichte geschrieben!«, jubelte Reuteler später. Am ZDF-Mikrofon verriet sie, dass sie am Comeback des Teams nie gezweifelt hatte: »Ich habe in den Augen der Spielerinnen gesehen, dass wir das noch holen.«
Das Ergebnis: 1:1 (0:0) am letzten Spieltag der Gruppe A gegen Finnland, die Schweiz erreicht vor heimischer Kulisse erstmals das Viertelfinale einer Europameisterschaft. Für die Finninnen ist Schluss, trotz durchweg guter Leistungen in der Vorrunde fehlten am Ende Punkte und Tore für den Einzug in die K.o.-Phase.
Auf Taschenmessers Schneide: Gerade erst schien sich die Schweiz gegen Island ins EM-Fieber gespielt zu haben, da lauerte auf dem Weg in die K.o.-Runde schon die nächste Gefahr. Finnland war als Außenseiter in die Gruppe A gestartet, feierte aber nicht nur einen überlegenen Sieg gegen Island, sondern zeigte auch bei der Niederlage gegen Norwegen den besseren Fußball – mehr Ballbesitz und ein riesiges Chancenplus inklusive. Immerhin durfte Pia Sundhages Nati einen kleinen Vorteil mit in das Spiel nehmen, das über den Viertelfinaleinzug entscheiden würde: Wegen der besseren Tordifferenz konnte die Schweiz sich ein Remis erlauben, Finnland musste gewinnen.
Mit der gebotenen Vorsicht: Entsprechend dosiert betrieben die Schweizerinnen ihr Offensivspiel. Da war mal der Fernschuss von Top-Talent Sydney Schertenleib, von Torhüterin Anna Koivunen weggefaustet (13.). Svenja Fölmli, die es Momente später mit der Hacke probierte. Aber sonst: Vor allem defensiver Fleiß, Zweikämpfe im Mittelfeld, der Versuch, die Finninnen torlos zu halten. Das ging gut, auch wenn Oona Sevenius nach einer Ecke viel zu frei aufs Tor köpfen durfte (22.) und Torhüterin Livia Peng einen tückisch verlängerten Freistoß erst im Nachfassen packte (44.). Gleich mehrere Mitspielerinnen herzten Peng für diese Glanztat, dass die Null weiter stand, hatte höchste Priorität.

Livia Peng hielt lange für den SV Werder Bremen den Kasten sauber, schloss sich jüngst dem FC Chelsea an
Foto: Stephane Mahe / REUTERSKaderbreite ja, aber: Zur Pause wechselte Sundhage doppelt, auch, wenn das Ergebnis weiter passte. Unter anderem Joker Leila Wandeler gehörte bislang mit ihrem Tempo und ihrer Spielfreude zu den auffälligeren Schweizerinnen bei dieser EM, selbst als Teilzeitkraft. Später sollte noch Alayah Pilgrim ins Spiel kommen, Torschützin gegen Island, auch Social-Media-Star Alisha Lehmann würde in der Schlussphase noch den Rasen betreten. Diese Fähigkeit, frische Kräfte nachzulegen, darf als Schweizer Qualität betrachtet werden. Aber wer auch auf dem Platz stand, sie alle konnten das Problem der schwachen Strafraumbesetzung nicht lösen: Nicht selten war die Schweiz mit null zu vier Spielerinnen im finnischen Sechzehner vertreten, selbst dann, wenn die Gelegenheit zur Flanke eigentlich dagewesen wäre (z.B. 62.). Das änderte sich erst mit dem Rückstand.
Eine gegen drei: Die Lage für Sanni Franssi schien aussichtslos. Nach vorne konnte sie sich nicht bewegen, da begrenzte die Grundlinie das Spielfeld. Nach links, rechts und hinten war der Weg ebenfalls versperrt: Noelle Maritz, Reuteler und Viola Calligaris hatten es allesamt auf den Ball abgesehen, den Franssi unter größtem Druck kontrollierte. Für gewöhnlich versuchen Spielerinnen in dieser Lage, ein Schienbein anzuschießen, eine Ecke rauszuholen. Franssi aber hatte eine bessere Idee, drehte sich rückwärts zwischen ihren Bewacherinnen hindurch und spielte den Ball zur herbeigeeilten Emma Koivisto, die von Calligaris per Tritt umgehend von den Beinen geholt wurde. Stéphanie Frappart konnte nicht anders entscheiden: Das war ein Foulelfmeter. Einer, für den Finnlands Abwehrchefin Natalia Kuikka höchstselbst mit nach vorne eilte: Mit ihrem zentral platzierten Strafstoß schoss sie Finnland in Führung (77.). Bis in die Nachspielzeit sollte diese halten, dann kam Xhemaili.

Zumindest für ein paar Minuten schien ein finnisches Weiterkommen greifbar
Foto: Martial Trezzini / EPADie größten Gewinnerinnen: Kommen aus Norwegen. Im Parallelspiel holten die Skandinavierinnen den dritten Sieg im dritten Gruppenspiel, angeführt von den Doppeltorschützin Signe Gaupset und Frida Maanum gelang ein 4:3 gegen Island. Das Team um Offensivstar Caroline Graham Hansen hatte zuletzt spielerisch nicht überzeugt, darf nun aber selbstbewusst ins Viertelfinale gehen – aller Voraussicht nach gegen die Italienerinnen. Die müssen am Freitagabend erst einmal aufpassen, sich gegen Topfavorit Spanien besser zu verkauft als die zuvor doch arg in Mitleidenschaft gezogenen Portugiesinnen und Belgierinnen.