EM 2025: Giulia Gwinns Abreise und die Folgen für das DFB-Team

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Die Zürcher Vormittagssonne auf dem Trainingsplatz der DFB-Auswahl konnte bereits wehtun, aber das war natürlich nicht der Grund, warum sich Giulia Gwinn wenige Minuten nach dem Aufwärmprogramm auf die Ersatzbank in den Schatten setzte und nach Eisbeuteln griff.

Gwinn, die auf Krücken und einer Schiene am gesamten linken Bein auf dem Sportzentrum Buchlern zu beobachten war, hatte lange genug gestanden. Es war Zeit für eine Sitzpause für die am Knie verletzte DFB-Kapitänin. Und Zeit, das Knie zu kühlen.

Am ersten Tag nach der Diagnose (Innenbandverletzung, aber kein dritter Kreuzbandriss) und dem damit verbundenen EM-Aus für Gwinn trainierte die DFB-Auswahl noch einmal vor den Augen ihrer Anführerin. Am Nachmittag wird sich die 26-Jährige aber auf den Rückweg nach München machen, wo sie mit ihrem Reha-Programm beginnen soll – so verlangt es ihr Verein Bayern München.

Sportlich wiegt der Ausfall der Rechtsverteidigerin und konstantesten DFB-Spielerin schwer genug. Als Führungskraft könnte sie noch mehr vermisst werden – auf dem Platz und auch abseits davon. Nach den Rücktritten von Alexandra Popp (145 Länderspiele) und Marina Hegering (42 Länderspiele) fehlen den DFB-Spielerinnen ohnehin schon Führungsstärke und Erfahrung.

»Überhaupt keine Sorgen«?

Bereits vor dem EM-Start hatte Popp in einem Podcast angedeutet, dass dieser noch jungen DFB-Auswahl führungsstarke Charaktere fehlen könnten. Gleichzeitig sah sie einen Umbruch und ihren Rücktritt als notwendig an.

Mit Gwinn sah man sich gut aufgestellt. Doch dann kam die Verletzung im Auftaktspiel gegen Polen dazwischen.

 Führungswechsel

Minge für Gwinn: Führungswechsel

Foto: Markus Fischer / Passion2Press / IMAGO

Nun stellen sich zwei Fragen: Wer soll dieses Team führen, wer wird in kritischen Phasen das Wort ergreifen, wer hat ausreichend Einfluss auf den gesamten Kader? Janina Minge, die Co-Kapitänin, die aber kaum Turniererfahrung mitbringt?

Im zweiten Gruppenspiel gegen Dänemark am Dienstag (18 Uhr, TV: ARD und DAZN, Liveticker: SPIEGEL.de) wird die Innenverteidigerin zwar die Kapitänsbinde tragen. Aber ob eine Spielerin mit 21 Länderspielen, darunter erst ein Einsatz bei einem großen Turnier, zwei gewonnenen Titel (U17-EM-Siegerin 2016 und Gewinnerin internationaler Polizeimeisterschaften) bereits genügend Autorität besitzt, darf zumindest vorsichtig infrage gestellt werden.

Spielmacherin Linda Dallmann fand am Sonntag positive Worte für die neue Chefin. »Sie ist ein Typ, der über die Grenzen hinausgeht. Ich mache mir überhaupt keine Sorgen, dass sie die Mannschaft nun anführt«, sagte sie, aber wer von sich aus auf »Sorgen« zu sprechen kommt, hat im Hinterkopf vielleicht doch welche.

Warum der FC Bayern Gwinn zurück in München haben möchte

Und die zweite Frage: Hätte Gwinn nicht zumindest als Stimme hinter den Kulissen, als Führungskraft innerhalb der Kabine, beim EM-Kader bleiben müssen? Wäre sie womöglich auch in einer solchen Rolle eine Hilfe gewesen?

Die Tatsache, dass der FC Bayern auf die Rückkehr der Außenverteidigerin pocht, hat eine Vorgeschichte. Gwinn hat sich bereits zweimal das Kreuzband gerissen, beide Male während einer Länderspielphase beim DFB: Im Februar 2020 erlitt sie den ersten Kreuzbandriss am rechten Knie, im Oktober 2022 den zweiten am linken Knie.

Verletzungen passieren im Fußball, aber Vereine können sehr entschlossen reagieren, wenn sich diese im Nationaltrikot ereignet haben. Immerhin sind es die Klubs, die die Spielerinnen bezahlen.

 Am Nachmittag verlässt sie das DFB-Quartier

Gwinn: Am Nachmittag verlässt sie das DFB-Quartier

Foto: Sebastian Gollnow / Sebastian Christoph Gollnow / dpa

Bei Gwinn kommt hinzu, dass nach ihrem ersten Kreuzbandriss 2020 zunächst eine Fehldiagnose gestellt wurde. Sie selbst schreibt darüber in ihrem nun erschienenen Buch. Zunächst wurde trotz einer MRT-Untersuchung ein Innenbandschaden diagnostiziert, in einem zweiten Test beim FC Bayern wurde jedoch ein Kreuzbandriss festgestellt.

Dadurch wurde nicht nur der Reha-Prozess verschleppt, sondern die Spielerin selbst stürzte man damals auch in ein emotionales Chaos. Sie habe sich komplett verloren gefühlt, schreibt Gwinn.

Ein solches Szenario will man beim FC Bayern um jeden Preis verhindern. Laut »Bild«-Zeitung wurde bereits am Samstag die medizinische Abteilung des FC Bayern eingeschaltet. Mit Gwinns Rückkehr will man in München jetzt sicherstellen, dass ihr Genesungsprozess perfekt anläuft.

Denn auch in München zählt Gwinn zu den besten und wohl auch zu den teuersten Spielerinnen. Mit Lena Oberdorf haben die Münchnerinnen zudem eine Topverdienerin auf der Gehaltsliste, die aufgrund eines Kreuzbandrisses und dessen Folgen derzeit nicht spielen kann. Sie kam im Vorjahr für eine angebliche Rekordablöse aus Wolfsburg, hat aber noch kein einziges Spiel in München bestritten.

Der Teamrat, der fast nur noch aus Minge besteht

Oberdorf gehört aufgrund ihrer Erfahrung auch beim DFB zum Mannschaftsrat – natürlich fehlt sie aktuell auch dort.

Diesem Rat gehört auch Felicitas Rauch an. Christian Wück hat sie allerdings nicht für die EM nominiert und bereits zuvor nicht mehr berücksichtigt. Anschließend warf sie dem Bundestrainer einen schlechten Kommunikationsstil vor. Sara Däbritz und Kathrin Hendrichs sind die weiteren Spielerinnen, die dem Mannschaftsrat angehören. Beide sind bei der EM dabei, aktuell jedoch nur als Reservistinnen. Somit können auch sie auf dem Platz kaum Einfluss auf das Team nehmen.

Bundestrainer Christian Wück

Bundestrainer Christian Wück

Foto: Beautiful Sports / Wunderl / IMAGO

Es bleibt also Minge, die einzige Spielerin im Mannschaftsrat, die auch der Startelf angehört.

Mitten im Turnier muss das DFB-Team eine funktionierende Hierarchie bilden; womöglich wird diese Aufgabe noch schwerer, als Gwinn sportlich zu ersetzen. Bundestrainer Wück ernannte zudem Chelsea-Spielerin Sjoeke Nüsken zu Minges Co-Kapitänin. Sie hat in London eine starke Entwicklung genommen, saß dort zuletzt aber oft auf der Ersatzbank.

Es schienen sich trotzdem keine Alternativen zu ihr aufgetan zu haben. Dallmann sagte zu Nüskens Beförderung: »Wir haben kopfnickend zugestimmt.«

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