
Siegtorschützin Kelly (r.): »Das Team zeigt mal wieder Widerstandsfähigkeit«
Foto: Miguel Medina / AFPDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Echt englisch: Ihre Auftritte beschrieben die englischen Nationalspielerinnen zuletzt häufig als »proper English«, »echt englisch«. Was das bedeuten soll? Zusammenhalt und Kampfgeist, fielen Trainerin Sarina Wiegman dazu ein, »harte Grätschen« nannte Georgia Stanway. »Proper English« ist weniger ein Spielstil als eine Mentalität, ein Niemals–aufgeben, ein Immer-weiter-machen. Im Wesentlich das Pendant zu den aktuell wieder populären »deutschen Tugenden« , zu denen auch gehört, was ein »Guardian«-Journalist im Podcast »Football Weekly« dem englischen Team zuschrieb: »They’ve got this ›Turniermannschaft‹ thing.«
Nach dem Comebacksieg im Viertelfinale stemmte sich die Lionesses auch im Halbfinale stur gegen das Ausscheiden. Erneut war es mehr Willens- als Glanzleistung. Als Chloe Kelly in der 119. Minute den entscheidenden Treffer erzielte, gestikulierte sie beschwichtigend mit den Händen. Schulterzuckend lehnte sie danach an der Eckfahne, als wolle sie der Welt mitteilen: So läuft das bei uns eben. »Proper English«.
Das Ergebnis: England gewinnt. In Genf gingen die Italienerinnen durch Barbara Bonansea in Führung (33. Minute). Doch Michelle Agyemang (90.+6) und Chloe Kelly (119.) drehten eine nicht immer hochklassige, aber dramatische Partie zugunsten der englischen Titelverteidigerinnen. Am Sonntag (18 Uhr) spielt England nun im Finale gegen Deutschland oder Spanien, die am Mittwochabend (21 Uhr, TV: ARD, Liveticker: SPIEGEL.de) aufeinandertreffen. Den Spielverlauf können Sie hier im Liveticker nachlesen.
Mit »Unwritten« Geschichte schreiben: Beide Mannschaften hatten sich auf dramatische Art und Weise im Viertelfinale durchgesetzt. Die Engländerinnen machten gegen Schweden einen 0:2-Rückstand wett, ehe sie in einem absurden Elfmeterschießen trotz vier Fehlschüssen weiterkamen. Italien schlug durch ein Kopfballtor in der 90. Minute die Norwegerinnen und zog erstmals seit 1997 in ein EM-Halbfinale ein. Der Sieg wurde wie ein Titel gefeiert und mit Natasha Bedingfields 2000er-Pophit »Unwritten« besungen. »Wir wollen weiter träumen«, sagte Mittelfeldspielerin Annamaria Serturini vor dem Halbfinale, in das Italien als klarer Außenseiter ging.
Stehen statt knien: Vor Anpfiff setzten die Engländerinnen ein Zeichen mit dem, was sie nicht taten. Anders als in den Partien zuvor knieten die Spielerinnen nicht auf dem Rasen, stattdessen standen die Ersatzspielerinnen Arm in Arm an der Seitenlinie. Der Kniefall, eine im Sport weitverbreitete Geste gegen Rassismus, sei angesichts der rassistischen Anfeindungen, die ihre Teamkollegin Jess Carter während des Turniers erfuhr, nicht stark genug, begründete Verteidigerin Lucy Bronze die Entscheidung. »Es ist eindeutig, dass wir und der Fußball einen anderen Weg finden müssen, um Rassismus zu bekämpfen«, hieß es in einem Statement der Engländerinnen.

Spielerin Bonansea beim 1:0: der schönste Angriff der Partie
Foto: Eddie Keogh / Getty ImagesDie erste Hälfte: Beim Anstoß legte Manuela Giugliano den Ball mit der Sohle in den Lauf ihrer Mitspielerin. Eine Aktion, die ein mitreißendes Fußballfest versprach, mündete zunächst in einer zerfahrenen Anfangsphase. Italien überzeugte mit einer Fünferkette und laut »Kicker«-Daten zwischenzeitlich über 80 Prozent gewonnener Zweikämpfe. England probierte es vor allem über die linke Seite, kam nach Flanken aber eher zufällig zum Abschluss (11./20.). Mit ihrer ersten Chance, die gleichzeitig der schönste Angriff der Partie war, ging Italien in Führung: Sofia Cantore wand sich an der Seitenlinie geschickt um ihre Gegenspielerin, einen Doppelpass und eine abgefälschte Hereingabe später versenkte Barbara Bonansea den Ball volley unter der Latte (33.).
Die zweite Hälfte: Die Lage für die Engländerinnen war ernst, das sah auch Trainerin Wiegman so, die anders als im Viertelfinale schon zur Pause einen Wechsel vornahm. Die Neue, Beth Mead, belebte die rechte englische Seite, überhaupt wussten die Engländerinnen deutlich mehr mit dem Ball anzufangen als noch im ersten Durchgang. Mal probierten sie es per Flanke, mal mit einer Kombination bis an die Torauslinie, mal per Fernschuss. Nach der verletzungsbedingten Auswechselung von Torjägerin und Kapitänin Cristiana Girelli spielte Italien immer seltener nach vorn und immer öfter auf Zeit. In der 74. Minute ließ es sich Torhüterin Laura Giuliani nicht nehmen, den Ball vor dem Abschlag doch lieber zwei Meter nach rechts zu legen. Sie sah dafür die Gelbe Karte. Fast hätte Italien vor Ablauf der regulären Spielzeit sogar ein zweites Tor geschossen (84.). Doch eine Minute später wechselte Wiegman den Ausgleich ein.

Stürmerin Agyemang (r.): Drei Tore in vier Länderspielen
Foto: Alexander Hassenstein / Getty ImagesEnglands »Super Subs«: Wiegman gehört zu den erfolgreichsten Trainerinnen. Seit 2017 stand sie bei Welt- und Europameisterschaften stets im Finale. Über jeden Zweifel erhaben ist sie in England dennoch nicht. »Es ist frustrierend«, sagte die frühere Nationalspielerin Natasha Dowie über Wiegmans Angewohnheit, den breiten Kader der Engländerinnen erst spät zu nutzen. So auch gegen Italien: Die dribbel- und abschlussstarke Chloe Kelly von Champions-League-Sieger Arsenal kam erst in der 77. Minute, begleitet von hoffnungsvollem Jubel der Fans. In der 85. Minute betrat dann Michelle Agyemang das Feld. Die 19-Jährige hatte England schon im Viertelfinale als Joker in die Verlängerung gerettet – und traf nun in der sechsten Minute der Nachspielzeit durch die Beine von Elena Linari und Giuliani zum 1:1. Es war ihr dritter Treffer im vierten Länderspiel.
Die Verlängerung: England, allen voran Kelly, zeigte ein paar vielversprechende Offensivaktionen. Die beste Chance hatte Agyemang, die sich im Laufduell vor Cecilia Salvai schob, den Ball über die Torhüterin hinweg hob und dann ungläubig auf die Knie fiel. Ihr Abschluss hatte sich an die Latte gesenkt. Der entscheidende Treffer war stattdessen Kelly vorbehalten: Einen Foulelfmeter stocherte sie im Nachschuss über die Linie (119.). Auf der italienischen Bank flossen Tränen, Emotionen überall, bis man vom Kommentator wieder zurück in die ZDF-Realität geholt wurde: »Die Zuschauerinnen und Zuschauer, die auf Markus Lanz warten, das gibt’s natürlich nach diesem Halbfinale.«