Ehrung für Osteuropa-Kenner: Historiker Karl Schlögel erhält Friedenspreis

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Ungewöhnlich spät ist in diesem Jahr die Bekanntgabe des kommenden Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels erfolgt: Er geht an den Berliner Historiker Karl Schlögel. Der Siebenundsiebzigjährige ist eine hervorragende Wahl – intellektuell, persönlich, inhaltlich. Seine Expertise für osteuropäische, speziell russische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ist unerreicht, und er gehörte zu den Ersten in Deutschland, die vor Putins Politik warnten: Mit den seit 2014 laufenden russischen Angriffen auf die Ukraine wurde der große Liebende der russischen Kultur zu einem publizistischen Gegenspieler Russlands.

Und doch darf man die Entscheidung überraschend nennen. Nicht der Qualifikation Schlögels wegen. Sondern weil nun im vierten Jahr des russischen Kriegs gegen die Ukraine zum dritten Mal ein entsprechender Preisträger gewählt wurde: Nach Serhij Zhadan 2022 und Anne Applebaum 2024 (dazwischen wurde Salman Rushdie ausgezeichnet). Aber wir sind auch im zweiten Jahr des Gaza-Kriegs. Aus der gegenüber den jüngeren Vergaben um einen ganzen Monat verzögerten Mitteilung der diesjährigen Vergabe des Friedenspreises muss man keinen zeitaufwendigen Dissens bei der Entscheidungsfindung ableiten, aber die Spannung war gewachsen, wer wohl diesmal für würdig erachtet würde. Und die Erwartung, dass die betreffende Person etwas mit dem Nahost-Konflikt zu tun haben müsse.

Was den Friedenspreis selbst auszeichnet

Es wäre überzogen zu sagen, dass alle Welt auf die Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gestarrt hat, aber neben dem Friedensnobelpreis ist die Frankfurter Auszeichnung auf diesem Feld wohl doch die international prestigereichste. Und da Friedensschaffung leider immer eine utopische Komponente aufweist, ist der deutsche Preis mit seinem Fokus auf Literatur und Kunst oft näher an der Realität als der explizit praktisch legitimierte Nobelpreis. Wie viele mit Letzterem Geehrte haben danach durch ihr Handeln (oder oft auch Nicht-Handeln) tief enttäuscht!

Aber auch der Frankfurter Preis wird immer als ein politisches Signal verstanden, manchmal indes in unterschiedlichen Weltgegenden anders. So wurde die Auszeichnung der Amerikanerin Anne Applebaum hierzulande angesichts ihrer politischen Publizistik als klares Bekenntnis zum Überlebenskampf der Ukraine verstanden – wie schon zwei Jahre davor die Ehrung des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan. In muslimisch geprägten Gesellschaften dagegen wurde die Entscheidung von 2024 als typisch deutsche Positionierung im Gaza-Krieg verstanden, denn Applebaum hat auch klar für Israel Position bezogen. Nur spielt das in ihren jüngsten Büchern eine weniger wichtige Rolle gegenüber ihrem Einsatz für die Ukraine.

Was den Friedenspreis diesmal ins Gerede bringen wird

Seit vergangenem Jahr hat die Friedensfrage im Nahen Osten allgemein und speziell in Gaza noch an Brisanz gewonnen – und an utopischem Gehalt. Deshalb hatte „alle Welt“ für dieses Mal die Wahl eines Preisträgers mit unmittelbarem Bezug zum Nahost-Konflikt erwartet. Doch genau diese Erwartungshaltung musste die zuständige Jury in Bedrängnis bringen: Wer wäre wirklich als vermittelnde, nicht polarisierende Stimme denkbar gewesen? Der Schriftsteller und Friedensaktivist David Grossman hat den Preis schon, und ein anderer israelischer Geehrter hätte die außerhalb Deutschlands gängige Wahrnehmung einer einseitigen Entscheidung (und damit Parteinahme) ungeachtet seiner eigentlichen künstlerischen Aussage nur bestätigt. Auf arabischer Seite wiederum fehlt es an Stimmen, die versöhnlich argumentieren.

Mit der nun bekanntgegebenen Entscheidung für Karl Schlögel ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, der insofern überzeugt, als dass dieser Autor zu den brillantesten Historikern zählt. Seine großen Bücher „Terror und Traum – Moskau 1937“ von 2008, „Das sowjetische Jahrhundert – Archäologie einer untergegangenen Welt“ von 2017 (nach der großen Desillusionierung) und zuletzt „American Matrix – Besichtigung einer Epoche“ (2023), das die ideologisch-ästhetischen Parallelelen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im zwanzigsten Jahrhundert analysiert, sind Solitäre auf dem deutschen Buchmarkt. Gemeinsam mit Irina Scherbakova kam bereits 2015 „Der Russland-Reflex  –Einsichten in eine Beziehungskrise“ heraus: Schlögels programmatische Bekenntnisschrift. Schade, dass Scherbakova schon im Vorjahr als Laudatorin auf Applebaum in der Paulskirche auftrat. Die russische Friedensnobelpreisträgerin von 2022 wäre auch diesmal die naheliegende Wahl für die Würdigung von Schlögels Werk gewesen

Die Verleihung der mit 25.000 Euro dotierten Auszeichnung findet traditionell in der Paulskirche statt, am Sonntag der Frankfurter Buchmesse. In diesem Jahr ist das der 19. Oktober. Man darf dann, wie man Karl Schlögel kennt, mit einer fulminanten Dankesrede rechnen. Aber der Friedenspreis selbst wird sich als Institution fragen lassen müssen, ob er sich noch traut, die Welt in den Blick zu nehmen.

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