Wenn es um eine wissenschaftlich fundierte Analyse des europäischen Drogenmarktes geht, führt für Suchtforscher kein Weg an der Drogenagentur der Europäischen Union vorbei (EUDA). Jährlich veröffentlicht sie den europäischen Drogenbericht.
Der am Donnerstag in Lissabon vorgestellte Bericht für 2023 ist der 30. seiner Art, sein Befund ist besorgniserregend: Der europäische Drogenmarkt verändert sich immer schneller. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Drogen, ihre Konsumenten und die Sicherheit in der EU.
»Anstieg hochpotenter Substanzen«
Alexis Goosdeel ist als Direktor der EUDA Europas oberster Drogenexperte. Er sieht einen »Anstieg hochpotenter Substanzen« auf dem Kontinent. Synthetische Drogen, die oft deutlich günstiger als die Ursprungsdroge zu produzieren sind, drängen zunehmend auf den Markt. Darunter Opioide, Cannabinoide und Cathinone, vereinfacht formuliert künstliches Heroin, Cannabis und Kath. Diese Stoffe, so Goosdeel, belasteten die Gesundheits- und Sicherheitssysteme erheblich. Überwachungs- und Warnsysteme müssten verbessert werden.
Hendrik Streeck, der neue Drogenbeauftragte der Bundesregierung, sagte dem SPIEGEL: »Wir sehen eine besorgniserregende Dynamik auf dem Drogenmarkt – immer mehr Substanzen, immer gefährlichere Wirkstoffe, immer niedrigere Hemmschwellen beim Konsum.«
Als Arzt alarmiere ihn besonders der zunehmende Mischkonsum. Streeck spricht von Substanzcocktails, »deren Wirkungen nicht mehr zu kalkulieren sind«. Eine Einschätzung, die der EUDA-Bericht teilt: Die Agentur schätzt, dass es im Jahr 2023 EU-weit etwa 7500 Drogentodesfälle gab (7100 im Jahr 2022), hauptsächlich verursacht durch Opioide in Kombination mit anderen Substanzen.
Rekordmenge an Kokain
Im Jahr 2023 wurde zum siebten Mal in Folge in der EU eine Rekordmenge an Kokain beschlagnahmt: 419 Tonnen, fast 100 Tonnen mehr als 2022. Mit der Menge an Stoff wächst neben der Verfügbarkeit auch die Kriminalität.
Laut Magnus Brunner, EU-Kommissar für Inneres und Migration, nehmen Bandenkriminalität und Gewaltverbrechen zu, dabei gebe es einen besorgniserregenden Trend der Jugendanwerbung: Zunehmend würden auch Minderjährige als Kuriere oder Verkäufer rekrutiert.
Häufiger als Kokain wird in der EU nur Cannabis konsumiert, laut Bericht griffen 24 Millionen Erwachsene zu dem Stoff. Auch hier spielen zunehmend synthetische Stoffe eine Rolle, die die Wirkung von THC, dem Hauptwirkstoff im Cannabis, nachahmen und an die gleichen Rezeptoren andocken.
Dem Bericht zufolge spielen synthetische Opioide wie Fentanyl oder Nitazene in der EU »insgesamt eine relativ kleine Rolle«. Besonders in den baltischen Ländern würden sie auftauchen, in Estland und Lettland würden sie einen erheblichen Anteil der Überdosis-Todesfälle verursachen.
Auch in anderen Ländern wurden die Stoffe bereits gefunden. Seit 2009 sind insgesamt 88 synthetische Opioide aufgetaucht. Besondere Sorge bereiten dabei die schon genannten Nitazene, von denen bereits Kleinstmengen töten können. Sie tauchen inzwischen in verschreibungspflichtigen, gefälschten Medikamenten auf.
EUDA-Direktor Goosdeel fordert angesichts des Berichts unter anderem, die Prävention auszubauen. »Jetzt ist der Moment, gemeinsam zu handeln, um die öffentliche Gesundheit und Sicherheit zu schützen und Leben zu retten.« Hendrik Streeck warnt davor, bei der Suchthilfe zu sparen. Das wäre nicht nur falsch, sagt er, sondern langfristig gefährlich.