Digitale Gesundheitsanwendungen: Über Hürden, Fortschritt und Kritik

vor 8 Stunden 1

Digitale Gesundheitsanwendungen, sogenannte DiGA oder "Apps auf Rezept", spalten die Gemüter. Kritisiert wird oft, die Preise seien zu hoch und sie brächten keinen ausreichenden Nutzen. Dabei müssen die Hersteller strenge Anforderungen erfüllen, um eine DiGA zur Marktreife zu bringen. Neben dem Nachweis der medizinischen Wirksamkeit sind Datenschutz, IT-Sicherheit und Interoperabilität mit der Telematikinfrastruktur, der "Gesundheitsdatenautobahn", Pflicht. In den vergangenen Jahren hat der Gesetzgeber die Regeln bezüglich Datenschutz und Wirksamkeit sogar noch einmal verschärft.

Trotzdem stehen DiGA immer wieder in der Kritik: Die Kosten werden hinterfragt, die bürokratischen Hürden für Patienten und Ärzte sind hoch, und die Integration in die Versorgung läuft nicht immer reibungslos. Gleichzeitig wächst die Zahl der Verordnungen stetig, und viele Patienten profitieren von den digitalen Therapien, die oft schneller verfügbar sind als klassische Behandlungen.

Mario Weiss ist Gründer und CEO der Hamburger Gaia AG, die sie auf die Entwicklung von digitalen Gesundheitsanwendungen spezialisiert hat.

(Bild: Gaia)

Über diese Herausforderungen haben wir mit Dr. Mario Weiss gesprochen. Er ist Gründer und CEO der Gaia AG, die sieben DiGA auf den Markt gebracht hat – darunter Deprexis zur Behandlung von Depressionen und weitere Anwendungen für chronische Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Im Interview spricht Weiss unter anderem über die Hürden, DiGA auf den Markt zu bringen und was sich aus seiner Sicht verbessern sollte.

heise online: Was war Ihre Motivation, in den DiGA-Markt einzusteigen?

Mario Weiss: Das deutsche DiGA-System ist international einzigartig und stellt für uns eine besondere Chance dar. Ist ein Produkt als DiGA zugelassen, ist das eine Gewährleistung für eine hohe Qualität.

Ich habe mich schon seit Jahren – als KI noch nicht in aller Munde war – damit beschäftigt, wie man Algorithmen in der Verhaltensmedizin einsetzen kann. Die Verhaltensmedizin konzentriert sich darauf, das Verhalten von Patienten zu ändern, um ihre Gesundheit zu verbessern. Dazu gehören Aspekte wie gesündere Ernährung, mehr Bewegung und auch die Veränderung von Denkweisen. Letzteres fällt in den Bereich der Psychotherapie. Unser Flaggschiff-Produkt im Bereich der digitalen Therapie, Deprexis, hat hier weltweit Maßstäbe gesetzt. Es ist nicht nur zertifiziert und nachweislich wirksam, sondern hat eine über 15-jährige Forschungstradition und wurde global beforscht – zum Beispiel in den USA, Südamerika und Asien.

Welche besonderen Hürden gibt es?

Eine große Hürde ist der Zugang für Patienten. Während Medikamente in Minuten verfügbar sind, warten viele Patienten fast 13 Tage, bei den AOKen sogar bis zu vier Wochen auf ihre digitale Therapie, weil Krankenkassen die gesetzliche 2-Tages-Frist zur Freischaltung überschreiten. Und das wird durch den aktuellen E-Rezept-Entwurf nicht besser, sondern schlimmer. Die Einlösung bleibt technisch kompliziert, bürokratisch überfrachtet und Krankenkassen behalten die Rolle als Gatekeeper. Das widerspricht der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers, dass Ärzte Therapieentscheidungen fällen und nicht Krankenkassen. Es untergräbt das Vertrauen in die digitale Medizin.

Manche bezeichnen DiGA als "tot" oder im "Sterben". Was ist da dran?

Nichts. Sie werden therapeutisch genutzt wie nie zuvor. Die Zahl der Verordnungen steigt seit Jahren, die Akzeptanz bei Ärzten und Patienten wächst, und die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag ausdrücklich zur Stärkung bekannt. Wir erleben eher, dass Innovationen durch übermäßige Bürokratie ausgebremst werden. Ein Beispiel? Das EU-Zertifikat für Informationssicherheit kommt mit ungefähr 27 Seiten aus. Der deutsche Sonderweg: über 150 Seiten. Wenn wir so weitermachen, verspielen wir unseren Vorsprung, weil wir mehr Zeit und Geld in Bürokratie als in Forschung und Entwicklung investieren müssen.

Sind Ihre DiGA bereits an die Telematikinfrastruktur und die elektronische Patientenakte angeschlossen? Wie sieht es mit der GesundheitsID aus, gibt es da noch rechtliche Hürden?

Unsere DiGA sind vollständig an die Telematikinfrastruktur angeschlossen und bereits heute kompatibel mit der ePA 3.0. Sie generieren versorgungsnahe Daten, die, sofern gewünscht, direkt in die ePA eingespeist werden können. Damit entsteht ein bisher unerreichter Einblick in die tatsächliche Versorgungssituation. Zudem ist die Anmeldung über die GesundheitsID jetzt schon technisch möglich, aber sie wird bislang kaum genutzt.

Wie unterscheidet sich das von der Nutzung in anderen Ländern?

In Deutschland ist das Produkt tatsächlich als DiGA anerkannt. In anderen Ländern werden solche Anwendungen oft in unterschiedlichen Settings eingesetzt. In den USA sehen wir etwa eine grundlegend andere Wahrnehmung von digitalen Therapien. Dort spricht man nicht abschätzig von ‘Apps auf Rezept’, sondern von ‘Novel Therapies’, von neuartigen, verhaltensbasierten Interventionen. In den USA startet aktuell die bislang größte Studie zu einer digitalen Therapie bei MS gegen Fatigue, ko-finanziert und unterstützt von der US-amerikanischen Regierung, basierend auf unserer DiGA Elevida. Das zeigt, wie ernst solche Therapien international genommen werden und welches Potenzial bei dieser Innovation "Made in Germany" steckt.

Vor zwei Jahren haben Sicherheitsforscher eine Lücke bei Deprexis entdeckt. Wie war das damals?

2023 wurde einer unserer Forschungsserver gehackt. Tatsächlich war keine DiGA betroffen. Ich finde es aber grundsätzlich sehr gut, dass die Hacker-Szene auf Sicherheitslücken hinweist. Das ist besser, als wenn das Kriminelle machen.

Es gibt viele Diskussionen über die Evidenz und den Nutzen von DIGAs. Ist das berechtigt?

Es ist wie bei Medikamenten – als guter Arzt weiß man, was man bei welchem Patienten einsetzt. Bei digitalen Therapeutika gibt es erfahrene Kollegen, die differenzieren können, welche Anwendungen wirklich hilfreich sind. Produkte wie Deprexis werden oft empfohlen, da sie sich bewährt haben und es bereits seit 15 Jahren Forschung dazu gibt, die die Wirksamkeit belegen. Dennoch gibt es auch Anwendungen, bei denen man sich fragt, welchen Mehrwert sie bieten. Das gilt übrigens für Medikamente ebenso.

Die Kosten werden auch immer wieder kritisiert, dabei wird auch Ihre teuerste App Levidex mit Kosten in Höhe von 2077,40 Euro pro Quartal aufgeführt. Was würden Sie dem entgegensetzen?

Levidex kommt für den Bereich Multiple Sklerose zum Einsatz. Die Entwicklungskosten für die Therapiesoftware sind sehr hoch. Das liegt an der Erkrankungsschwere und Komplexität. Gleichzeitig gibt es wenige Nutzer, da die Erkrankung ungefähr 0,3 Prozent der Bevölkerung betrifft. Natürlich ist eine Therapie, die mehr Menschen nutzen, wirtschaftlicher. Aber wir brauchen auch in Nischenindikationen Forschung und Innovation. Und wenn es wie bei unserer Therapie nachweislich wirkt, dann braucht es einen fairen, differenzierten Preis, um die extrem hohen Kosten für Forschung und Entwicklung zu refinanzieren.

Im Bereich Interoperabilität, Datenschutz und IT-Sicherheit gibt es berechtigterweise ebenso hohe steigende Anforderungen.

Sie haben Kritik an den Aussagen des GKV-Spitzenverband geäußert, DiGA würden nichts nutzen und seien zu teuer. Was haben Sie dem entgegenzusetzen?

Die Arzneimittelausgaben betrugen letztes Jahr rund 53 Mrd. Euro. Davon betrug der DiGA-Anteil 0,2 Prozent. Und DiGA sollen die Kostentreiber sein? Es gibt eine aggressive und unwissenschaftliche Haltung von bestimmten Krankenkassen gegenüber digitalen Therapien, während sie gleichzeitig ihre eigenen Programme ohne ausreichende Evidenz und Sicherheit in den Markt bringen. Einige AOKen tun sich hier leider unrühmlich hervor. Aber es gibt auch Krankenkassen, die unsere Produkte empfehlen und dadurch Geld sparen. Patienten, die mit nachweisbar wirksamen Produkten schnell gesund werden, sind eben auch ‘günstiger’ als diejenigen, die ewig auf Therapie warten und mit Produkten zweifelhafter Wirksamkeit ‘selbst versorgt’ werden.

Welche Krankenkassen bieten Programme an?

Einige AOKen bieten beispielsweise ein Programm namens Moodgym an, das sich in Studien als nicht wirksam erwiesen hatte, aber dennoch weiterhin angepriesen wird. Auch die Techniker Krankenkasse tritt an Hersteller heran, um exklusive Programme zu entwickeln, ohne die strengen Evidenzanforderungen zu erfüllen, die für DIGAs gelten.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der digitalen Therapie in Deutschland?

Einen fairen Prozess, der zum Beispiel die Entwicklung und Erstattung von Spezialindikationen wie Multiple Sklerose anders bewertet als allgemeine Indikationen. Außerdem sollten einige Krankenkassen ihre Haltung ändern und im Sinne ihrer Patienten aufhören, Produkte mit zweifelhafter Wirksamkeit zu pushen, um vermeintlich zu sparen.

(mack)

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